12.2.12

#SampleSunday - Königliche Republik ... Sechzehntes Kapitel ...

25. Dezember 1647
„Je weniger Leute davon wissen, desto mehr Spielraum bleibt“, hatte der Comte de Modène gesagt, als er Enzo die Genehmigung für Mirellas Besuch in Torrione übergab. Darum fuhr Enzo jetzt die Kutsche selbst.
Neben Mirella saß Rita. Sie hatte darauf bestanden mitzukommen und brachte Mirella jetzt an den Rand des Wahnsinns mit ihrem Gejammer.
„Mamma, so hör Sie endlich auf! Ich kann ja gar nicht nachdenken!“
„Wie sprichst du mit mir?“ Rita blitzte sie zornig an. „Du hast die ganze Zeit mit Dario unter einer Decke gesteckt!“
Mirella schloss die Augen. „Mamma! Bitte!“
Rita schwieg schließlich. Erst als Enzo in Torrione Mirella aus der Kutsche half, öffnete sie wieder den Mund. Aber jetzt war es an Enzo, ihr einen Blick zuzuwerfen, der sie schweigen hieß.
Mirella folgte Enzo zum Tor; mit jedem Schritt wuchs ihre Angst. Was erwartete sie dort?
Er ließ den schweren Türklopfer anschlagen; dann drehte er sich zu ihr um und nahm sie fest in die Arme. „Wir warten hier auf dich.“ Er zitterte mehr als sie selbst, als er sie an sich drückte. „Meine tapfere Kleine. Pass auf, was du sprichst. Vielleicht hängt alles davon ab.“
Ein Riegel quietschte, als er zurückgezogen wurde. Dann drehte sich knarrend ein Schlüssel.
Mirella zitterten die Knie; sie befreite sich aus Enzos Armen und reckte den Kopf.
Ein Milizionär stand neben dem Tor, dahinter ein schwarz gekleideter Mann. Ein Tintenfleck neben dem Mund verriet ihn als Schreiber.
Die Wache trat zur Seite.
„Signore, Er wünscht?“
Enzo zog den Passierschein aus der Manteltasche und hielt dem Schreiber das Siegel vors Gesicht. „Meine Tochter hat die Erlaubnis des Dogen, ihren Bruder zu sprechen.“
Der Schreiber nahm Enzo das Papier ab, zog einen Zwicker hervor und setzte ihn auf. Er studierte das Papier und murmelte dabei die Worte mehrmals hintereinander, als wolle er sie auswendig lernen. „Das hatten wir noch nie!“ Er musterte Mirella von unten bis oben. „Sie wird ihre feinen Kleider schmutzig machen! Eine Dame wie Sie hatten wir noch nie.“ Er kratzte sich hinter dem Ohr. „Sie sieht ihm nicht sehr ähnlich. Ist Sie wirklich die Schwester?“
Enzo begann rot anzulaufen, ein sicheres Zeichen, das er gleich aus der Haut fahren würde.
Mirella erschrak; schnell trat sie vor ihn und reckte ihren Kopf noch ein wenig höher. „Wird Er dem Befehl des Dogen nun folgen und mich einlassen?“
Fast hätte sie gegrinst, als der Schreiber einen halben Schritt vor ihr zurückwich und sich ein wenig verneigte. „Selbstverständlich, Signorina. Bitte hier, Signorina.“ Noch nie hatte sie so mit jemandem gesprochen. Es stimmte also, dass Arroganz sich auszahlte.
Doch gleich darauf stieg wieder Angst in ihr hoch. Der Schreiber führte sie durch einen dunklen Korridor zu einer langen Treppe, auf deren steinernen Stufen ihre Schritte laut widerhallten. Der Keller war dagegen aus gestampfter Erde; ein lehmiger Boden, auf dem an vielen Stellen das Wasser stand. Der Gang wurde von einzelnen qualmenden Fackeln spärlich erleuchtet und ging um mehrere Ecken. Zuweilen entschwand der Schreiber ihrem Blick und sie hörte nur noch das Klirren seiner Schlüssel. Sie beeilte sich, Schritt zu halten, denn er nahm keine Rücksicht. Die Wände rückten immer dichter an sie heran, je weiter sie kamen. Darum hatte er gesagt, sie würde sich ihre Kleider schmutzig machen. Sie wickelte ihre Röcke enger um sich, aber es mochte wenig nützen. Von Zeit zu Zeit traf sie ein Tropfen ins Gesicht. Ihre Schuhe sogen sich mit Wasser voll und ihre Füße wurden eiskalt. Dann ging es eine Schräge hinab, die im Fackellicht schmierig-feucht schimmerte. Unwillkürlich streckte sie die Hand nach einem Geländer aus, um nicht darauf auszurutschen; aber es gab natürlich keines.
Sie blickte zurück und ein Schauer lief ihr über den Rücken. Wenn dieser Mann es nicht wollte, würde sie nie wieder den Weg zurück finden.
Endlich blieb er vor einem hohen Eisengitter stehen und hängte die Fackel an die Wand daneben. Er löste den Schlüsselbund von seinem Gürtel und benutzte beide Hände, um das schwergängige Schloss zu öffnen. Solche Mühe, einen Schlüssel zu drehen, hatte man eigentlich nur bei einer selten benutzten Tür. Wo führte er sie hin? Dann nahm er die Fackel wieder aus der Halterung und ging er weiter. Mirella raffte ihre Röcke höher und machte größere Schritte, um ihn nicht mehr aus den Augen zu verlieren, während er um die nächsten Ecken ging. Am liebsten hätte sie gefragt, ob es noch weit sei; aber das hätte nicht zu einer arroganten Haltung gepasst.
Irgendwo plätscherte es leise und dann quiekte es vor ihren Füßen. Eine Ecke weiter sah sie im Schein der Fackel eine fette Ratte davonspringen. Der Ekel schüttelte sie.
Endlich wurde der Gang wieder breiter; hinter einer weiteren Ecke kam ihnen Lichtschein entgegen. Dann standen sie vor einem anderen Gitter. Zwei Wächter saßen dort und spielten Tarock. Im Schein ihrer Kerzen schimmerten die neuen Münzen der Republik auf dem Tisch. Einer sah auf und spielte dann die nächste Karte aus.
„Heh, ihr da! Öffnen!“
Der andere Wächter legte seine Karte ab; dann nahm er den Stich an sich. „Das Spiel gewinne ich, mein Freund.“ Er beugte sich zur Seite und stand mit einem Schlüssel in der Hand auf. „Was haben wir denn da?“ Er bedachte Mirella mit einem schmierigen Grinsen, bevor er aufschloss.
„Lass sie zu dem Gefangenen. Befehl des Dogen.“
Zu Mirellas Entsetzen blieb der Schreiber hinter dem Gitter zurück, während der Wächter sie an der Hüfte packte und vor sich her in die Dunkelheit schob. Als er sie losließ, blieb sie stehen. Sie wagte nicht, sich umzudrehen.
Arroganz! Sie reckte den Kopf. „Wo ist mein Bruder?“ Leider klang ihre Stimme jetzt gar nicht mehr arrogant, sondern rau.
Der Wächter tauchte mit einer flackernden Kerze neben ihr auf, deren Docht fast im Wachs ersoff. Sie holte tief Luft und folgte ihm.
Vor einer schweren Tür mit einer eisernen Klappe blieb er stehen. Er öffnete die Klappe und blickte hinein. „Er ist noch da“, brummte er; dann schloss er auf.
Der Gestank von moderndem Stroh schlug ihr entgegen. Es war stockfinster. Ein schabendes Geräusch, dann klirrte eine Kette.
Mirella blieb an der Tür stehen. „Dario?“ Ihre Stimme war ein fast unverständliches Krächzen.
Ein Stöhnen war die Antwort; die Kette rasselte lauter. „Mirella! Um Gottes willen!“ Das flackernde Licht zeigte ihr nur seine Konturen.
Der Wächter drückte ihr die Kerze in die Hand. Heißes Wachs floss über ihre Finger; sie hielt die Luft an, bis der Schmerz nachließ. Dann hob sie das Licht und ging tapfer einen Schritt vorwärts. Hinter ihr fiel die Tür zu.
Die dunkle Gestalt, die Dario war, richtete sich halb auf und lehnte sich an die Wand. „Was tust du hier?“ Seine Stimme war heiser, geborsten vor Schmerz.
Entsetzt starrte sie auf sein zerschundenes Gesicht. Sie streckte die freie Hand aus und berührte vorsichtig eine Stelle, die nicht blutverkrustet oder dunkel angelaufen war. „Oh, Dario, was haben sie mit dir gemacht?“ Sie schluchzte auf und legte einen Arm auf seine Schulter, um ihn an sich zu drücken.
Er quittierte es mit einem Stöhnen und sie ließ ihn erschrocken los.
„Wie kommst du hierher?“
„De Guise hat mir einen Passierschein ausgestellt.“
„So!“
Sie starrte ihn an. „Was hast du ihnen gesagt?“
Dario kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. „Nichts. Ich haben ihnen nichts gesagt.“
Sie atmete erleichtert auf. „Das ist gut.“ Behutsam  legte sie ihre Finger auf seine zerschundenen Lippen. Dann fiel ihr eine dringende Frage ein. Sie flüsterte: „Was wollten sie von dir wissen? Was werfen sie dir überhaupt vor?“
„Dass ich die Spanier mit Informationen versorge.“
„Die Spanier.“ Sie vergaß, dass sie leise sprechen wollte, falls der Wächter hinter der Tür lauschte. „Die Spanier, du noch nie ausstehen konntest.“ Ihr wurde leicht ums Herz; ein Vorwurf, der so offensichtlich falsch war. Sie konnten ihm nichts anhaben. „Wie kommen sie nur darauf? Das ist doch absurd.“
Er blickte irgendwo hinter ihr in die Luft; sie wandte den Blick. Licht schimmerte durch die Klappe. So stand tatsächlich einer dahinter und lauschte.
Darum hob sie die Stimme erst recht, damit er es nur hören konnte. „Werfen sie dir meine Verlobung vor?“
Er hob die Schultern in einer unendlich müden Bewegung. „Kaum.“ Sein Gesicht verzerrte sich; das sollte wohl ein Grinsen sein. „Dass ich Felipe verabscheue, dürfte sich herumgesprochen haben.“
„Alexandre sagt ...“
„Alexandre?“ In seinen Augen flackerte etwas, das Zorn bedeuten mochte.
„Der Marquis de Montmorency ... Er hält es für eine Verschwörung gegen Vater.“ Das war nun ihre sehr freie Auslegung, aber es mochte so falsch nicht sein.
Dario schluckte schwer. „Das ...“
„Man wird dir den Prozess machen.“
„Ich weiß. De Guise will ein Urteil.“
„Damit hat er dir das Leben gerettet! Er hat sich geweigert, Anneses Todesurteil gegen dich zu unterschreiben.“
„Und wo ist der Unterschied?“ Er knurrte aufgebracht.
Sie senkte ihre Stimme. „Sie haben doch nichts in der Hand gegen dich. Oder?“
Er schwieg und blickte zu Boden. Sie hob sein Kinn. Konnten sie ihm doch etwas beweisen? Sie traute sich nicht zu fragen. Sie hatten ihn schon länger im Auge gehabt, hatte Alexandre gesagt. „Wenn du dir ein Geständnis abpressen lässt, kann auch de Guise dich nicht retten.“
Verachtung stand in seinem Blick; er glaubte ihr nicht. „Ich weiß“, ächzte er.
Sie legte ihm sacht die Hand auf die Schulter. „Du musst durchhalten; versprich es mir“, flüsterte sie in sein Ohr.
„Wenn das wahr ist, dass sie es auf Vater abgesehen haben“, er stöhnte wieder, „dann seid ihr alle in Gefahr.“
So weit hatte sie noch nicht gedacht. Es stimmte ja. Das Gericht würde den gesamten Besitz der Familie beschlagnahmen, sollte auch Enzo angeklagt und verurteilt werden. Der Vater – würde er durchhalten, wenn man ihn folterte? „Was können wir für dich tun?“
Dario schüttelte den Kopf. „Beten?“ Er nahm ihre Hand in die seinen. „Was ist mit Stefania?“
„Ich glaube nicht, dass sie in Gefahr ist.“
„Was – hat sie gesagt?“
„Ihre Eltern sind mit eurer Ehe einverstanden. So wie die unseren.“ Sie strich ihm durchs Haar. „Sie weiß es nicht. Es ist besser, wenn niemand von deiner Verhaftung weiß.“
„Wer sagt das? Damit man mich möglichst unauffällig beseitigen kann“, zischte er.
„Alexandre ... der Marquis de Montmorency ...“
„Du scheinst inzwischen sehr vertraut mit ihm zu sein, dass ihr euch mit Vornamen nennt.“
„Nein, gar nicht!“ Er war eifersüchtig, selbst jetzt noch. Selbst hier. „Mit Albert sind wir doch auch per Du.“ In ihren Gedanken nannte sie ihn Alexandre; aber im Gegensatz zu Albert schien es ihr undenkbar, dass sie ihn duzte. „Er steht auf unserer Seite. Er hat mir die Genehmigung verschafft, dich zu besuchen.“
„Was glaubst du, warum?“
Sie starrte ihn ratlos an.
„Um mich unter Druck zu setzen. Um euch einzuschüchtern.“ Er fluchte heftig. „Sie haben nichts aus mir herausbekommen, als sie mich folterten. Nun versuchen sie es mit Erpressung – oder einem Handel.“
Mirella keuchte vor Entsetzen. „Das glaube ich nicht! So etwas würde er nie tun; er weiß doch selber ...“
„Denk nach, Mirella. Anneses Miliz hat mich festgenommen. Aber es ist de Guise, der mir den Prozess machen lässt.“
„Aber – damit rettet er dich.“
„Du bist reingefallen auf das, was Montmorency dir erzählt hat. Falls Annese glaubte, dass ich mit den Spaniern paktiere. würde er mir nichts tun. Wenn sie ihm mehr nützten als de Guise – du würdest dich wundern, wie schnell er wieder unter ihre Fittiche kröche.“
Annese als der wahre Verräter; das hatte auch Alexandre gesagt. Wer sagte hier noch die Wahrheit? Sie wurde immer durcheinanderer im Kopf. Dario, log er auch? Als er sagte, dass er für die Barone arbeite? Als er gegen die Spanier lästerte? Verwirrt schloss sie die Augen; sie müsste nachdenken. „Sag mir genau: Wann und wo haben sie dich verhaftet? Wie haben sie es begründet?“
Dario ließ sich an der Wand entlang aufs Stroh rutschen. „Ich war in Aversa; in der Osteria.“
„Das liegt nicht auf dem Heimweg!“ Sie blickte zur Tür, das Licht, das durch die Ritzen an der Klappe schimmerte, war genauso hell wie zuvor. „Dort“, sie zeigte mit einer Kopfbewegung hin und suchte nach einer unverfänglichen Formulierung, „wartet jemand vor der Tür. Aber unsere Zeit ist wohl nicht begrenzt.“
„Sie ist begrenzt, glaub mir.“
Nicht weinen jetzt; sie schluckte. Gleich musste sie wieder arrogant auftreten. Sie hockte sich neben Dario. Aus dem Stroh stieg ihr der scharfe Geruch von Urin in die Nase. „Wolltest du zu den Oliveto? Aber Stefania ist die ganze Zeit in Neapel gewesen.“ War das die Rettung? Wenn er sich als heimlicher Liebender präsentierte?
Dario schüttelte den Kopf. „Halte Stefania raus. Bitte.“ Er drückte ihre Hand, „Und du auch! Bring dich nicht in Gefahr.“
„Warum sagst du ihnen nicht, wozu du den Umweg gemacht hast?“
„Glaubst du denn, das interessiert jemanden?“
„Mit wem hast du dich in Aversa getroffen?“
„Mit niemandem; ich war tatsächlich nur auf der Durchreise.“ Er sprach leise; mit unterdrückter Stimme, aber sie war plötzlich sicher, dass man das draußen hören konnte. Sie hatte von Bauwerken gelesen, in denen man an den unmöglichsten Orten hören konnte, was in bestimmten Räumen gesprochen wurde. Hier auch? Sie hielt die Kerze höher und blickte nach oben; aber die Decke war irgendwo weit weg in der Dunkelheit. Ungewöhnlich hoch für einen Keller. Sie musste mit Enzo darüber reden.
Dario hauchte einen Kuss auf ihre Fingerspitzen. „Sei lieb, Schwesterchen, und geh jetzt. Du kannst nichts für mich tun.“
Sie schluchzte. „Vielleicht sehe ich dich niemals wieder.“
„Doch.“ Seine Stimme barst vor Grimm. „Die Hinrichtung wird gewiss öffentlich sein. Die neuen Herren müssen ihre Macht demonstrieren.“
Die Kerze ersoff mit einem letzten Aufflackern. Mirella hatte zu spät nach dem Docht gegriffen.
„Das würde de Guise niemals ...“ Aber Alexandre hatte gesagt, dass es dem Dogen genau darum ginge: seine Macht demonstrieren. Bislang jedoch mit dem Ergebnis, dass man Dario nicht geköpft hatte. „Weißt du, wann sie dich vor Gericht stellen wollen?“
Die Tür klappte und Licht strömte zu ihnen. „Signorina, warum hat Sie die Kerze ausgemacht?“
„Ich ...“ Mirella bremste sich im letzten Moment. Nichts erklären; Arroganz. „Es zieht in diesem Loch! Und es stinkt! Schämt Er sich nicht? Er behandelt ihn wie einen Verbrecher; aber er ist zu Unrecht hier.“
„Das sagen alle.“ Der Wärter trat ein und streckte seine Hand nach ihr aus. Schnell stand sie auf, damit er sie nicht berührte.
„Ich werde mich beschweren!“
Der Wärter wedelte sie hinaus. Wollte sie vermeiden, dass er sie anfasste, musste sie das Verlies verlassen. An der Tür drehte sie sich noch einmal um. Dario war ein Schatten in der Dunkelheit.
Der Schreiber erwartete sie am Gitter; er hatte mit dem anderen Wärter das Kartenspiel fortgesetzt und ein Dutzend schimmernder Münzen vor sich aufgehäuft. „Da ist Sie endlich. Ich dachte schon, Ihr gefiele unser gastliches Haus so, dass sie bliebe.“
Er geleitete sie hinaus und deutete gleich darauf zu einer Treppe. „Dort entlang.“
Die Treppe führte in eine düstere Halle. Dahinter aber lag gleich der Kreuzgang. Genau so hatte sie sich das gedacht: Es gab einen kürzeren Weg. Er hatte sie einschüchtern wollen, als er sie durch die unterirdischen Gänge geführt hatte.
Er brachte sie zu einer kleinen Pforte; sie war nicht bewacht. „Den Rest des Weges findet Sie allein.“
Krachend schlug die Tür hinter ihr zu. Warum wollte er nicht, dass man sie gehen sah?
Sie lehnte sich gegen das Holz, müde, schmutzig, hilflos. Sie war nur ein Mädchen. Was konnte sie gegen diese Festung ausrichten?
Sie drehte sich zur Seite und schlug schluchzend gegen die Festungsmauer; sie riss sich die Haut an den Steinkanten auf. „Ich krieg dich hier raus, Dario. Ganz gleich, was ich dafür tun muss.“ Sie wischte das Blut an ihrem hellen Mantel ab und betrachtete die Flecken. Wenn er nur durchhielt.
Die Kutsche musste in südlicher Richtung stehen. Sie brauchte nur an der Mauer entlang zu gehen.

Auf dem Heimweg stieg sie trotz der schneidenden Kälte zu Enzo auf den Kutschbock. Sie konnte das Gejammer jetzt nicht ertragen, mit dem Rita sie empfangen hatte.
Enzo blickte sie immer wieder von der Seite an, aber er sagte nichts und fragte nichts. Seine Schweigsamkeit tat ihr gut. Sie drückte ihr Gesicht an seine Schulter, um sich vor dem Wind zu schützen, und dachte nach.
Als sie die Stadtmauer erreichten, richtete sie sich auf. „Wir werden ihn dort herausholen.“
„Erzähl mir alles; ganz genau.“ Er nickte. „Vielleicht finden wir einen Weg.“
„Wir müssen, Vater.“ Sie klammerte sich an seinen Arm.
Er nahm die Zügel in eine Hand und schob ihr mit der anderen die Locken unter die Kapuze zurück, die ihr in die Stirn hingen.
„Ich komme mit Ihm ins Kontor.“
Überrascht zügelte er das Pferd. „Warum?“
„Weil ...“ Sie vermochte es ihm nicht zu erklären, es war nur eine Eingebung gewesen. „Wir werden in den Büchern etwas finden, um zu beweisen, dass er in Geschäften unterwegs war.“
„Aber natürlich war er das.“
„Auch in Aversa?“
Enzo knurrte und schlug übertrieben heftig mit der Peitsche auf das stetig dahintrottende Pferd ein.

Der neue Kontor roch nach Beize und Terpentinöl. Unter dem breiten Fenster stand der alte Schreibtisch von Enzos Großvater, den er aus dem Keller in der via Saliniera geholt hatte. Eine beschlagene Truhe stand auf dem Boden neben einer Öffnung, wo sie eingemauert werden sollte.
Enzo schob Mirella einen Schemel hin, kniete sich vor die Truhe und holte die beiden obersten Bücher heraus. „Wonach sollen wir suchen?“
Er vertraute ihr die Führung an und sie bekam Angst. Wenn sie es nun verdarb? „Ach Vater, es war eine Eingebung. Vielleicht wissen wir, was wir suchen müssen, wenn wir es sehen?“
Enzo strich ihr über die Wange. „Mein kleines Mädchen ist über Nacht erwachsen geworden.“ Er sagte es ohne Lächeln. Kein Kompliment, sondern eine eher überraschte Feststellung.
Eines der Bücher legte er ihr aufgeschlagen auf die Knie. „Hier stehen alle Aufträge der letzten beiden Monate. Ich habe hier die Lieferungen. Aber Dario war auf dem Rückweg. Irgendwie.“
„Wo sind die Stoffe geblieben, die er in Florenz geholt hat?“
Enzo knurrte. „Wo wohl?“
Also hatte man sie obendrein bestohlen. Das konnte doch nicht Anneses Werk gewesen sein. Nein, dieser Mann war ehrlich; trotz allem. „Er muss es reklamieren.“
„Sobald Dario frei ist.“ Das hieß, falls er freikäme.
Mirella blätterte schnell die beschriebenen Seiten durch. Es waren nicht viele; ohne den Auftrag des Dogen wäre Enzos Handel zusammengebrochen.
Sie begann von vorne, las jeden Eintrag. „Vater, hat Er eine Landkarte hier?“
Enzo öffnete eine Schublade und reichte ihr eine Rolle. Sie legte sie vor sich auf den Boden und beschwerte die Ecken mit Mauersteinen. Jetzt sah sie, welche Aufträge in der Nähe von Aversa erteilt worden waren. Einen davon mussten sie als Vorwand für Darios Umweg heranziehen.
Ein Sägewerk. „Was ist mit dem Bauholz für das neue Lager?“
„Alles geliefert und alles bezahlt.“ Enzo winkte ab. „Kein Grund, dort vorbeizufahren.“
Das Landhaus der Oliveto: Sie hatte Dario versprochen, Stefania nicht hineinzuziehen. Aber falls es seine einzige Chance war, würde sie sich darüber hinwegsetzen; keine Frage. Wenn er sie dafür verhauen würde, lebte er wenigstens. Sie las weiter. Eine Schneiderei. „Was ist das für ein Schneider?“
Enzo sah auf. „Roccone, Caivano. Das ist auch lange erledigt. Mein Geburtstagsgeschenk für deine Mutter.“
Rita hatte fast geweint vor Freude und Überraschung, als sie es auspackte. Ein Kleid, perfekt nach der neuesten französischen Mode. Nach Mirellas Meinung das schönste Kleid, das ihre Mutter je besessen hatte – und das hatte Enzo inmitten der Wirren zu Stande gebracht. Er musste sie unendlich lieben.
Mirella las weiter. In der Umgebung von Aversa fand sie noch einen Tischler, einen Winzer und einen Schuhmacher. Für jeden konnte Dario einen neuen Auftrag gehabt haben. Nirgendwo dort war er tatsächlich gewesen; aber niemand würde widerlegen können, dass er die Absicht gehabt hatte. Dennoch wäre es nicht überzeugend: Es gab schließlich keinen plausiblen Grund, warum er es nicht hätte angeben sollen, als sie ihn verhörten. „Es darf niemand sein, der mit den Baronen in Verbindung steht.“
Enzo fuhr mit der Hand über die aufgeschlagene Seite seines eigenen Buchs, deutete auf zwei Einträge. „Von diesen weiß ich, dass sie zur Partei der Feudalherren gehören. Ihre Schneider haben für einen Ball in der Burg von Nocera gearbeitet.“ Er seufzte. „Man kann sich die Kunden nicht aussuchen. In dieser Zeit erst recht nicht.“
„Und diese?“ Sie hielt Enzo ihr Buch hin. „Die Lieferanten?“
„Mich interessiert die Qualität ihrer Waren, nicht ihrer Gesinnung.“ Er nahm ihr das Buch ab und legte es auf den Schreibtisch. „Ich weiß es von kaum einen.“
„Aber worüber unterhält Er sich denn, wenn Er mit ihnen in einer Locanda sitzt?“ Mirella wurde ungeduldig. „Man muss doch nur ein wenig zuhören!“
Er blätterte zurück und deutete auf den Namen des Schneiders. „Roccone ist vermutlich ein Anhänger der Franzosen; er verabscheut die Mode der Spanierinnen!“
Mirella lachte. „Welch ein Grund!“ Ein Schneider, was sollte Dario bei einem Damenschneider wollen? „Ich habe Dario versprochen, Stefania nicht hineinzuziehen.“
„Das hast du Recht getan; die arme Kleine. Auch wenn Dario freigelassen wird ...“
„Er glaubt, ein Makel bleibt doch?“
„Das tut es immer!“ Wieder strich er ihr über die Wange; so viel Zärtlichkeit war ihm bisher nicht zu eigen gewesen. Ob er sich genauso hilflos fühlte wie sie? „Ich sehe nichts, was uns weiterhilft.“
Mirella senkte den Kopf. Ihr Blick fiel auf die Landkarte und sie nahm sie auf. „Es sind keine Straßen eingezeichnet.“
„Hier geht die Straße von Florenz entlang.“ Dario hatte tatsächlich einen beträchtlichen Umweg genommen. „Von Aversa hierher gibt es zwei Wege.“ Er zeigte sie ihr. Einer führte über Caivano.
„Kann Er sich irgendeinen Grund ausdenken, was Dario bei Roccone wollen konnte?“
Enzo blätterte das Lieferantenbuch weiter durch. Er presste die Lippen zusammen, dann sah er sie mit gerunzelter Stirn an. „Wenn wir nicht von Stefania sprechen wollen ... Überdies wäre es Sache ihrer Eltern ...“
Mirella brauchte nur eine Sekunde, um zu verstehen. „Ein Hochzeitskleid.“ Sie schlug die Hände vors Gesicht. „Das ist es.“ 




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