Luzern, 1824
Michael Corragioni, der Luzerner Stadtarzt, knallte dem Schultheiß eine schmale Akte
auf den Sekretär. „Hier habt Ihr Eure Leiche, Herr Am Rhyn. Erwürgt. Der Mann
war schon tot, als er in die Reuss fiel.“
„Ach, haben wir es diesmal akkurat?“ Karl Am
Rhyn sah nicht auf, sondern schnitzte konzentriert an seiner Schreibfeder
weiter. Dieser Bericht konnte warten; der tote Landstreicher hatte keine Eile
mehr.
„Worauf wollt Ihr hinaus?“ Corragioni hob die
Augenbrauen.
„Über den Schultheiß Keller konntet Ihr
weiland keine Feststellung treffen.“ Am Rhyn beobachtete Corragioni aus den
Augenwinkeln, während er fortfuhr. „Und gerade jetzt bekommen die Gerüchte neue
Nahrung, mein Vorgänger sei nicht versehentlich in der Reuss ertrunken.“
Corragioni zuckte die Achseln. „Die tauchen
mit jedem Toten auf, den wir rausfischen.“ Er schien auf eine Entgegnung zu
warten, aber Am Rhyn legte die Feder weg und begann in der Akte zu blättern. Er
hatte nicht die Absicht, seine Bemerkung näher zu erklären.
„Pfaffenbrut!“, murmelte er, als der Stadtarzt
gegangen war. Dann rief er nach seinem Sohn, der ihm als Assistent diente.
„Toni, hat der Amtmann von Glarus inzwischen nähere Auskünfte über diese Diebin
geschickt?“
„Man schickt uns keine Auskünfte weiter,
sondern die Weibsperson selber zur Einvernahme, und ihren Bruder auch. Es ist
alles sehr dubios: Die Angaben, die dieses Mensch zu den Umständen der Tat
gemacht hat, passen nicht zu dem, was wir dem Amtmann mitgeteilt haben.“
Sobald Clara Wendel im Gefängnis zu Luzern
eingetroffen war, ließ der Schultheiß sie zum Verhör bringen. Er erwartete sie
in einem ungeheizten Raum im Souterrain des Gerichtsgebäudes.
Der Landjäger führte ihm eine junge Frau in
kurzärmeligem Trachtenkleid vor. Die braunen Augen hatten trotz der langen
Haftzeit ihren Glanz behalten. Auch war das schwarze Haar sorgfältig zu einem
langen Zopf geflochten. Nur eine aufgesprungene Lippe und ein bläulichgelber
Bluterguss unter dem rechten Auge beeinträchtigten das ebenmäßige Gesicht.
„Sie hat gelogen“, fuhr Am Rhyn sie ohne
Umschweife an. „Selbst der Dümmste fischt nicht des Nachts im Regen.“
Clara senkte den Blick. „Ich hab’ getreulich
berichtet, was ich selber gehört habe über jenen Vorfall.“
„Sie hat angegeben, sie wäre damals dabei
gewesen.“
„Aber ich kann mich nicht mehr recht erinnern.
Was unterscheidet denn ein Kind, was es selbst erlebt und was ihm erzählt
wird.“
„So kann es auch nicht unterscheiden, ob es
wahr oder gelogen ist“, bemerkte der Schultheiß. Er erhob sich und ging um
seinen Tisch herum. Dicht vor ihr blieb er stehen.
Clara wich seinem Blick aus und presste die
Hände ineinander.
„Nun?“
„Hätt’ ich meinen eigenen Bruder angegeben,
wenn’s nicht wahr wäre?“
„So erzähl sie mir doch einmal, wie es richtig
war.“
„Ich hab’ schon alles gesagt, auf anderes kann
ich mich nicht besinnen.“
„Dann werden wir ihrer Erinnerung aufhelfen.“
Der Schultheiß winkte dem Wachmann und dieser trat mit erhobenem Knüppel näher.
Clara schrie auf und hob die Arme vors
Gesicht. „Schlag er mich nicht; ich sage ja, was ich weiß.“
Am Rhyn wandte sich zur Seite, griff nach
seiner Pfeife, stopfte sie bedächtig und zündete sie an. Der Wachmann zog Clara
den Knüppel zwei Mal über den Rücken. Sie wimmerte und fiel auf die Knie.
„Tu sie den Mund auf; dann hat sie Ruh“, sagte
der Schultheiß, ohne sie anzusehen.
„Mich friert“, flüsterte sie. Sie hockte sich
auf den steinernen Fußboden und schlang die Arme um die Knie.
„Welche ihrer Angaben sind gelogen?“, fragte
Am Rhyn. „Denn gelogen hat sie.“
Der Wachmann hob erneut seinen Knüppel; Clara
sah aus den Augenwinkeln zu ihm hoch und begann zu zittern. „Ich mein, da gab
es einen Schneider, einen gewissen Joseph oder Aloys Meyer, der hat einen Groll
wider den Schultheißen gehabt. Der Hansi war schon auf mehrere Tage in der
Gegend und hat ausbaldowert. Ich mein, er wusste, worauf er wartet. Am
nämlichen Tage bin ich mit der Mutter nach Littauen gegangen, wo wir ein Feuer
gelegt haben. Danach sind wir zurück; der Hansi hatte auf uns gewartet und wir
sind weiter. Und dann ist das eben passiert, wie ich’s berichtet hab.“
Am Rhyn legte die Pfeife beiseite, um ihre
Reaktionen zu beobachten. „Was kommt sie jetzt mit einem Schneider?“ Das war
eine Wendung, die ihm sehr gefiel. Sie mochte zu ganz neuen Erkenntnissen
führen.
„Ich mein, der Hansi hat einen Anstifter
gehabt. Was soll mein Bruder denn mit dem Schultheiß haben?
„Was soll der Schneider mit dem Schultheiß
haben?“
Clara zuckte die Achseln und lächelte Am Rhyn
ins Gesicht. „Ich mein ja bloß.“
„So hat sie sich das erfunden!“ Er trat so
dicht auf sie zu, dass ihr sein Gehrock ins Gesicht schlug. „Wen deckt sie?“
„Ich hab alles angegeben, was ich weiß.“ Sie
senkte den Kopf. Er verstand kaum, was sie murmelte. „Ich hab’s mir halt denkt.
Einen Grund wird er doch gehabt haben, der Schneider.“
„Eben!“ Am Rhyn beugte sich vertraulich zu ihr
herab. „Hatte der vielleicht auch einen Anstifter? Hast du einmal was gehört,
dass du das meinen könntest?“
„Ich weiß nicht. Ich muss mich über diese
Sache erst näher besinnen.“
„So besinne dich.“ Der Schultheiß ließ sie mit
dem Wachmann allein.
Zum Abend war Am Rhyn von der Schwiegertochter
zum Essen eingeladen. Er bemerkte kaum, was er aß und wartete nur darauf, sich
mit seinem Sohn in die Bibliothek zurückzuziehen.
„Das Weib redet, was ihr in den Sinn kommt,
aber dazwischen verrät sie manches doch.“
Toni warf ihm einen erwartungsvollen Blick zu,
während er den Cognac und zwei bauchige Gläser aus einer Vitrine nahm.
Am Rhyn nahm ihm ein Glas ab und ließ sich
einschenken. Er schnupperte am Cognac und lächelte. „Ich bin sicher, wir sind
einem Komplott auf der Spur. Endlich werden wir erfahren, wie der Keller zu
Tode kam.“
„Er ist ertrunken! Wir haben nie auch nur ein
Indiz gefunden, dass an den Gerüchten etwas wahr sein könnte.“
„Und doch war es Mord!“ Am Rhyn stellte sein
Glas so heftig auf den Tisch, dass der Cognac überschwappte. „Keller stand von
Anfang an auf der Seite Napoleons und wehrte sich beharrlich dagegen, dass die
Mediationsakte durch eine konservative Verfassung ersetzt würde. Er war unser
Bollwerk gegen die Ultramontanen.“ Am Rhyn stopfte mit heftigen Bewegungen
seine Pfeife. „Du hast nicht erlebt, wie Corragioni und der päpstliche Nuntius
geiferten, wenn er die Restauration durch den Wiener Kongress verdammte.“
„Aber Kellers Tod brauchten sie deswegen noch
lange nicht. Schau dir nur an, wie weit wir heute von einem Bundesstaat
entfernt sind.“
„Warum hat der Papst den Nuntius so plötzlich
zur Römischen Kurie abberufen? Er hat doch Testaferratas konservative
Kirchenpolitik unterstützt.“
„Als Testaferrata abberufen wurde, hat Keller
aber noch gelebt.“
„Na und? Die Pfaffen haben lange Arme.“ Am
Rhyn schüttelte den Kopf. „Was bist du naiv.“ Konnte sein Sohn nicht mal zwei
und zwei zusammenzählen?
„Nein, Vater. Ich glaube, du verrennst dich da
in etwas, womit du dir am Ende nur selber schadest. Was willst du mit den
Angaben einer Diebin, die zu Zeiten von Kellers Tod noch ein Kind war? Wenn du
dich irrst, bekommen die Ultramontanen erst recht Oberwasser.“
„Ich irre mich nicht.” Am Rhyn erhob sich.
„Wir brauchen nicht weiter zu reden. Du wirst schon sehen.“
Clara war bleich, als sie am nächsten Morgen
wieder vorgeführt wurde. Ihre blutverkrustete Haube bedeckte nur halb eine
frische Platzwunde am Haaransatz.
„Was hat sie zum Tode Kellers inzwischen
anzuzeigen? Sprech sie nur frei heraus und schone niemanden.“
„Soll ich den Hergang noch einmal aufsagen?“
„Aber nein; da ist das eine oder andere Detail
nicht von Bedeutung.“ Am Rhyn stand auf und schob Clara ans Fenster. Er legte
den Arm um sie und wies auf das Patrizierhaus an der Reuss-Brücke, neben dem
sich die beiden Zwiebeltürme der Jesuiten-Kirche im Wasser spiegelten. „Weißt
du, wer dort wohnt? Hast du schon mal von jemandem gehört, der mit den
Bewohnern zu tun hatte?“
Sie blickte vom Haus zur Kirche und wieder
zurück. Dann schüttelte sie den Kopf. „Das sind feine Leute. Solche kenne ich
nicht.“
„Dort ist vor acht Jahren eingebrochen
worden.“
„Ich war gewiss nicht dabei. Aber für die
meinigen leg ich nicht die Hände ins Feuer. Vielleicht fällt mir etwas ein,
wenn der Herr Schultheiß mir sagt, was gestohlen wurde.“
„Hast du vielleicht einmal gehört, dass einer
entdeckt wurde beim Einbruch und doch nicht angezeigt?“ Er beobachtete sie aus
den Augenwinkeln.
„Ja freilich … Aber das kostet immer was.“
„Ist das deinem Bruder auch passiert?“
„Dem Hansi nicht, aber dem Sepp, was mein
Schwestermann ist.“
„Was weißt du davon?“
„Das ist ein braver Kerl, der Sepp.“
Am Rhyn zog die Mundwinkel herab.
„Doch, doch“, beteuerte Clara schnell. „Vom
Militär, wo er ein gutes Auskommen hatte, hat er seinen Abschied genommen, weil
er den Kindern ein Vater sein wollte. Und klug ist er; der hat die halbe Welt
gesehen.“ Sie blickte auf den Fluss, zerrte an ihrem Zopf. Dann sah sie Am Rhyn
mit wachsamen Augen an: „Ich mein, wenn einer wo einbricht und der Hausherr
entdeckt ihn und lässt ihn laufen, dann ist das doch kein Verbrechen gewesen?“
„Sofern einer nicht verklagt wird, kann man
ihn nicht richten. Also erzähl.“
„Mehr kann ich dazu nicht sagen. Ich weiß es
auch nur von der Barbara. Ganz verjagt sei er zurückgekommen, hat die Schwester
gesagt.“ Clara lehnte den Kopf gegen das Fenster und schloss die Augen. „Einen
Hunger hab ich.“
„Das wird sie gewohnt sein. Erzähl sie, was
sie gehört hat.“
Sie sank auf den Boden. „Mir ist ganz elend.“
Der Schultheiß ließ sich nicht beeindrucken.
„Wenn ihr wieder etwas eingefallen ist, so reden wir weiter.“ Er wandte sich
zur Tür. „Mahlzeit“, grüßte er den Wachmann im Hinausgehen.
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1 Kommentar:
Hallo Annemarie,
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Ralf
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