20.11.01

Landgang
Am späten Vormittag waren sie endlich in Ägypten angelangt. Die meisten
Passagiere hatten den Landgang auf die kühleren Abendstunden verschoben.
Aber Avar Knause und Leon Wolf wollten auf keine Sekunde in der unbekannten
Welt voller Abenteuer verzichten: sie wartete in den alten engen Gassen auf
sie.
Ihr erstes Ziel war der Basar: Mittagshunger hatten sie alle beide, aber
insbesondere Leon Wolf war gierig auf die fremde Küche. Avar Knause hielt
sich zurück; er hatte sich - wie es ihnen zustand - auf dem Schiff ein
Lunch-Paket zurechtmachen lassen.
Während sie noch kauten, sahen sie sich die ausgestellten Teppiche im
nächsten Gewölbe an. Einer stach besonders hervor: gleichzeitig griffen sie
danach. "Ei, wir haben den gleichen Geschmack", sagten sie gleichzeitig.
Leon Wolf dachte bei sich: "Den muß ich haben, koste er, was er wolle." Und
Avar Knause seufzte innerlich: "Welch selten schönes Stück; aber bestimmt
unverschämt teuer."

(c) Annemarie Nikolaus

15.11.01

Italienischer Herbst

Rauschen, raunen, rütteln -
Wind in den Bäumen.

Klappern, rappeln, scheppern -
Wind deckt Dächer ab.

Fauchen, fegen, pfeifen -
Wind überm Meer.

Ächzen, krachen, donnern -
Sturm zerlegt den Wald.

(c) November 2001

20.10.01

Dies ist ein Gedicht für dich, Angelika,
die mich fasziniert mit ihrer unerschütterlichen Ruhe,
der Sanftmut, hinter der sich soviel Stärke verbirgt.
Unverhofft, nach langem Schweigen,
setzt du deinen Kontrapunkt –
unbeirrt, unbeeindruckt –
geradlinig gehst du deinen Weg.
Das macht dich stark,
aber auch hilflos gegenüber Egoismus und Eigennutz.
„Stille Wasser sind tief“.
Überraschend, wenn du nach langer Stille die Initiative ergreifst.
Überraschend auch, wenn man zufällig erfährt,
was du ganz beiläufig alles schaffst.

Bescheiden: ein altmodisches Wort; und doch paßt es zu dir.
Du machst kein Aufheben um deine Person –
Aber wenn es darauf ankommt, weißt du deine Rechte zu wahren.
So erreichst du mit deiner Geduld,
wo andere nutzlos ihre Energie verschwenden.
In Ausdauer und Beharrlichkeit liegt deine große Kraft:
„Das weiche Wasser bricht den harten Stein.“
Wieviel kann ich von dir lernen, Angelika.
(c) Annemarie Nikolaus, 6.3.91

31.8.01

... besucht meine Web-Site:
Homepage Annemarie Nikolaus

... und hier ein Gedicht für die Reiter der toten Pferde:

Halte dich aufrecht. Bring deinen Schwerpunkt
in Übereinstimmung mit dem deines Pferdes.
Nimm seinen Rhythmus mit deiner Bewegung auf -
dann wirst du es beherrschen können.

Halte dich aufrecht. Trage den Kopf hoch - sieh nach vorn.
Fürchte dich nicht vor der Stärke deines Pferdes.
Laß dich ein auf sein Temperament;
dann wird es dir gehorchen.

Nun
halte dich aufrecht.

22.8.01

"Wenn du entdeckst, dass du ein totes Pferd reitest, steig ab!", sagt ein Indianer-Sprichwort.
Der "moderne Mensch" probiert es inzwischen mit anderen Lösungen:
- Er sagt: "So haben wir das Pferd doch immer geritten!"
- Er besucht andere Orte, um zu sehen, wie man dort tote Pferde reitet.
- Er schiebt eine Trainingseinheit ein, um besser reiten zu lernen.
- Er ändert die Kriterien, die besagen, ob ein Pferd tot ist.
- Er erklärt, daß ein totes Pferd von Anfang an sein Ziel war.
- Er leugnet, jemals ein Pferd besessen zu haben.
- Er bleibt sitzen, bis das Pferd wieder aufsteht..

7.8.01

Aber der Lehrer ruft schon von Weitem ?einverstanden?, als er gemeinsam mit der Direktorin zu ihnen zurückkommt. Auf den paar Metern bespricht er noch kurz mit ihr, was er in der letzten Stunde mit den Schülern gemacht hat. Cristina will für die Dauer der Trauung die Klassen beider Lehrer unter einen Hut bringen, und begleitet ihn daher, um sich auch mit dem Kollegen abzustimmen.
Dann steht Cristina vor der kleinen Gruppe und wirft auch auf den Bräutigam einen Blick. Für einen Augenblick verschlägt es ihr den Atem. ,Das kann doch nicht wahr sein: Dieser Kerl besitzt tatsächlich die Frechheit und will sich ein zweites Mal kirchlich trauen lassen! Und ich warte immer noch auf das erste Mal. Na warte, du Miststück!?
Sie schaut den Pfarrer mit finsterem Gesicht an: ?Nein, mein lieber Bruder! Carlo, du wirst diesen Mann nicht trauen. Er hat nämlich schon einmal geheiratet, und seine Ehe ist nicht annulliert worden.?

Auch Guido hat aufgeatmet bei der Zusage der beiden. Aber als er hört, daß dazu die Direktorin erst noch ein Wort sagen müsse, wird ihm ganz mulmig. Er kennt Cristina gut und hatte sie mehr als einmal als rachsüchtig erlebt. Einst hatte er ihr den Hof gemacht, wie es sich eben gehört für einen jungen Mann, der sich an den Mädchen im Dorf für die Zukunft in der großen Welt erproben will. Aber sie hatte es ernst genommen, und nachdem er sie links liegengelassen hatte, war sie wahrhaft biestig geworden. Dabei war es völlig harmlos gewesen; sie hatte ihn ja nicht einmal an sich rangelassen. Sie hatte nie glauben wollen, daß sie keinen abgekriegt hatte, weil sie so zickig geworden war. Aber es gab niemanden unter den gleichaltrigen Männern im Dorf, bei dem sie nicht schon seit Jahrzehnten unten durch war. Mit ihren Gehässigkeiten hatte sie auch einen gehörigen Beitrag dazu geleistet, daß seine erste Ehe schiefgegangen war: Wenn sie ihn damals nicht bei seiner Frau verpetzt hätte, hätte Agnese ihn nie mit den fünf Kindern sitzengelassen.
Die beiden Lehrer schauen sich an. Während der Jüngere noch denkt, ,das gibt es doch gar nicht,? spricht der Ältere diesen Gedanken laut aus: ?Sowas ist mir auch noch nicht vorgekommen!? Der Blick, den die beiden miteinander getauscht haben, hat gereicht, sich darüber zu verständigen, daß sie dem Brautpaar zur Seite stehen wollen. Und so fährt der Ältere fort: ?Die Pause wird wohl nicht reichen, aber ich denke, das können wir schon machen.? Und sagt zum Pfarrer: ?Zum Glück ist die Direktorin ja Ihre Schwester. Sie wird sich sicher solange um unsere Schüler kümmern.?
Dem Pfarrer fällt ein Stein vom Herzen. Das arme Mädchen hat ihm wirklich leid getan in ihrer Verzweiflung. Obwohl - andererseits -, wenn er sich das recht überlegt, sie mit einem Mann verheiraten, der sich dermaßen als Trottel darstellt?
In eben diesem dramatischen Augenblick beginnt es, in der Grundschule lebendig zu werden. Die vier hören die lauten Stimmen der Kinder, die fröhlich in die Pause stürmen. Das Schultor öffnet sich und die Kinder stürzen heraus. Langsam folgen ihnen zwei Lehrer und drei Lehrerinnen. Draußen angekommen, werden die Lehrerinnen von den kleineren Kindern umringt und in Beschlag genommen. Die beiden Männer gehen, ins Gespräch vertieft, auf den Platz. Dort, vor der Kirche, sehen sie den Pfarrer, einen Meßdiener und ein Brautpaar. Bevor sie sich über irgendetwas wundern können, steht der Bräutigam atemlos vor ihnen: ?Ach, helfen Sie uns. Wir wollen heiraten, und der Pfarrer besteht auf Trauzeugen. Würde es Ihnen etwas ausmachen, uns dafür Ihre Pause zu opfern??
,Ich glaub, ich hör nicht recht,? wundert sich der Pfarrer. ,Hat man schon mal soviel Ignoranz erlebt? Oder was soll das? Ist der am Ende gar nicht katholisch? Die müßten doch wissen, daß die Ehe ein Sakament unserer Mutter Kirche ist und die Trauzeugen die Aufgabe haben, zu ihrem gottgefälligen Gelingen beizutragen. Das ist viel wichtiger als der juristische Akt in der Gemeinde.? Und darum: ?Mein Sohn, die Kirche war viele hundert Jahre vor diesem Staat da. Ohne Zeugen kann ich euch nicht trauen!? ? ,Mein Gott, jetzt fängt sie an zu weinen; das arme Kind. Aber ohne Zeugen kann ich die beiden nicht trauen; basta!?
Veronica ist entgeistert. ,Das darf doch nicht wahr sein: Ich habe mir alles so schön ausgemalt, und jetzt kommt der mit sowas! Vielleicht kann ich ihn mit Tränen zum Einlenken bringen.? Und sie fängt an zu weinen und zu flehen: ?Ach bitte, Sie können uns doch nicht wieder nachhause schicken.?
Guido rauft sich verzweifelt die Haare. ,Meine Veronica, meine arme Veronica. Was tut der Mensch ihr an! Ich darf sie nicht enttäuschen ? das würde sie mir nie verzeihen; es muß sich doch eine Lösung finden lassen. Kann er nicht seinen Ministranten nehmen und er selber auch Zeuge spielen, dann hätten wir doch alle beisammen??

,Sind die jungen Mädchen von heute aber genügsam geworden,? denkt dieser und antwortet gelassen: ?Nun, dann können wir ja beginnen, sobald die Trauzeugen da sind.?
Da erlebt er die nächste Überaschung dieser ungewöhnlichen Trauung, doch auch Guido zeigt sich überrascht: ?Trauzeugen!? wundert er sich laut und denkt, ,wir kommen hierher wegen Weihrauch und Orgelmusik und all dem anderen romantischen Zeug. Dazu brauchen wir keine Trauzeugen. Die Bürokratie haben wir gestern beim Bürgermeister abgehakt; dessen Paragraphenlitanei hat mir völlig gereicht. Die Kirche wird dem Staat wahrhaftig immer ähnlicher; demnächst müssen wir wohl auch noch Gebührenmarken kaufen, bevor wir zur Kommunion gehen, oder was?? Aber noch bleibt er gelassen und erklärt dem Pfarrer. ?Wir haben auch keine Trauzeugen eingeladen. Die hatten wir doch bei der Trauung beim Bürgermeister. Reicht das nicht? Sind die wirklich absolut unerläßlich auch bei der kirchlichen Zeremonie? Die Trauung in der Kirche ist doch kein staatlicher Akt.?
,Sind die jungen Mädchen von heute aber genügsam geworden,? denkt dieser und antwortet gelassen: ?Nun, dann können wir ja beginnen, sobald die Trauzeugen da sind.?
Da erlebt er die nächste Überaschung dieser ungewöhnlichen Trauung, doch auch Guido zeigt sich überrascht: ?Trauzeugen!? wundert er sich laut und denkt, ,wir kommen hierher wegen Weihrauch und Orgelmusik und all dem anderen romantischen Zeug. Dazu brauchen wir keine Trauzeugen. Die Bürokratie haben wir gestern beim Bürgermeister abgehakt; dessen Paragraphenlitanei hat mir völlig gereicht. Die Kirche wird dem Staat wahrhaftig immer ähnlicher; demnächst müssen wir wohl auch noch Gebührenmarken kaufen, bevor wir zur Kommunion gehen, oder was?? Aber noch bleibt er gelassen und erklärt dem Pfarrer. ?Wir haben auch keine Trauzeugen eingeladen. Die hatten wir doch bei der Trauung beim Bürgermeister. Reicht das nicht? Sind die wirklich absolut unerläßlich auch bei der kirchlichen Zeremonie? Die Trauung in der Kirche ist doch kein staatlicher Akt.?
Als das Brautpaar Hand in Hand vor ihm steht, begrüßt er sie herzlich: ?Guten Morgen, meine Lieben. Wie Ihr seht, seid Ihr die ersten. Mit wieviel Gästen rechnet Ihr?? ,In Afrika wäre das nie passiert, daß auch nur irgendjemand von den Gästen erst in letzter Minute zur Hochzeit kommt. Dort nehmen alle Verwandte und Freunde gemeinsam das Brautpaar in Empfang und überlassen das nicht dem Pfarrer, zumal, wenn er, wie ich, das Brautpaar gar nicht kennt.?
Veronica ist verblüfft. ,Ja, hat Guido ihm denn nicht gesagt, daß das hier nicht das eigentliche Hochzeitsfest ist,? fragt sie sich, ,sondern nur der romantische Abschluß?? Energisch sagt sie zum Pfarrer: ?Wir haben uns für eine stille Hochzeit entschieden, und darum niemanden zur Trauung eingeladen.?
Pfarrer Carlo Perini wartet schon vor der Kirchentür auf sie. Es sind nur noch fünf Minuten bis zum angesetzten Termin, und er fragt sich, wo denn die Hochzeitsgesellschaft bleibt. Normalerweise kommt das ganze Dorf zu Hochzeiten und Beerdigungen. Als er die Braut sieht, wundert er sich ein wenig, daß sie so jung ist. Als Signor Pulcini bei ihm war, um den Hochzeitstermin zu vereinbaren, war Perini gerade im Begriff, zu einem Sterbenden zu gehen. Darum hatte er sich lediglich die Namen der Brautleute und den vereinbarten Termin notiert, und sich nicht weiter damit befaßt. Nach fast zwanzig Jahre als Missionar in Afrika war er erst vor wenigen Monaten nach Italien zurückgekehrt. Es war ihm alles sehr fremd geworden, und darum war er seinen Oberen sehr dankbar, daß sie ihm vor drei Wochen die Pfarrei in seiner Heimatgemeinde gegeben hatten. Auch hier kam er sich noch ziemlich fremd vor, er kannte kaum eines der Gesichter seiner Jugend wieder. Und seine jüngste Schwester, Cristina, mittlerweile Direktorin der Grundschule, war immer ziemlich schreibfaul gewesen, so daß er selbst mit dem Dorfklatsch nicht auf dem Laufenden war. Aber alle waren herzlich um ihn bemüht, und das tat ihm wohl. - Jedenfalls fand er es ungewöhnlich, daß hier im Dorf zwei Leute heirateten, die so offensichtlich altersmäßig weit voneinander entfernt waren. ,Den Bräutigam sollte ich eigentlich kennen,? dachte er, ,er war bestimmt ein Spielgefährte meiner kleinen Schwester, und gerade in ihrem Jahrgang gab es wenige Jungs. Ich kann mich überhaupt nicht mehr erinnern. Aber die Braut ist bestimmt erst geboren worden, als ich schon in Afrika war.?
Während Veronica noch an ihre Großmutter denkt, hält Guido mit seinem knallroten Fiat 500 vor der Kirche. Auch ein Relikt, dieses Auto. Jedesmal, wenn Veronica ihn aussteigen sieht, wundert sie sich darüber, daß er überhaupt hineingepaßt hat. ,Wenn er mich nur halb so gut behandelt wie sein Autochen,? denkt sie manchmal, ,brauche ich mich über nichts mehr im Leben zu beklagen.? Guido hat natürlich nicht nur diesen Oldtimer, sondern auch ein richtiges Auto. Aber den BMW benutzt er nur für Geschäftsfahrten; er sagt ihr immer, den brauche er zum Repräsentieren, aber ein ernstzunehmendes Auto sei der eigentlich nicht; selbst zum Parken sei der Fiat tausendmal besser. Und mit dem BMW müsse er wegen jeder Kleinigkeit erst umständlich in die Stadt, während der Mechaniker hier im Ort den Fiat vollständig im Griff habe.
Während Guido Veronica die Autotür öffnet, schaut er sie bewundernd an. ,Veronica ist soviel hübscher als meine erste Frau?, denkt er. ,In dem Kleid ihrer Großmutter sieht sie aus wie einem alten Gemälde entsprungen.? Manchmal, wenn er sieht, mit welchen Augen sein Ältester Veronica betrachtet , spürt er leise Eifersucht. Er würde alles für sie tun; darum hat er auch in diese kirchliche Trauung eingewilligt und ihr lediglich behutsam ausgeredet, sie dorföffentlich zu machen.

Oberhalb der Kirche befindet sich das Dorferweiterungsgebiet. Dort, in einem großzügigen Neubau mit Garten, ist Veronica Moser aufgewachsen. Sie ist ein graziöses, immer gut gelauntes Mädchen, deren blonde Haare und blaue Augen an die Südtiroler Vorfahren erinnern. Vor einigen Wochen ist sie 19 geworden und heute findet der dritte Akt ihrer Hochzeit mit dem fast dreißig Jahre älteren Guido Pulcini statt: die kirchliche Trauung - romantischer Ausklang nach dröger Bürokratie und pompösem Festgelage.
Veronica hat das Hochzeitsgewand ihrer Großmutter angelegt, ein Kleid aus schwerer Seide, wie man sie heute nirgendwo mehr findet. Veronica kann sich noch gut daran erinnern, daß die Großmutter ihr erzählte, wie diese selber noch Seidenraupen hegte, und wie eklig sie diese Schilderungen fand. Unglaublich, welche wunderbare Stoffe daraus entstanden waren. Mit der Einführung der Kunstseide war der Markt zusammengebrochen: Heute gibt es nur noch vereinzelt Maulbeerbäume; das Tal lebt jetzt von Wein und Äpfeln.
Die Hochzeit
Im höher gelegenen Teil des Ortes, mitten auf dem Platz vor der Grundschule, steht die alte Dorfkirche. Von außen wirkt sie klein und unscheinbar; die Mauern sind aus dem beigen Stein, der seit Jahrhunderten das hauptsächliche Baumaterial der Gegend ist. Die einzige äußere Zier ist ein zur Hälfte restaurierter Fresko neben dem Hauptportal. In ihrem Innern jedoch ist sie von dem farbenprächtigen Prunk erfüllt, den die Fürstbischöfe des Rinascimento entfalteten, um damit die Größe ihres Glaubens zu dokumentieren. Das Vermögen, der einst zur Gestaltung dieser Kirche aufgewandt werden konnte, spiegelte getreulich den landwirtschaftlichen Reichtum dieses Tals.