Die Pferde
(...)
Wer hier abstieg, hatte entweder kein Geld oder etwas zu verbergen. Wahrscheinlich wimmelte es im Essen von Maden und in den Betten tummelten sich die Flöhe. Aber vielleicht gab es einen genießbaren Rum, denn darauf bestanden selbst die heruntergekommensten Gesellen.
Noch bevor sie die Tür öffnete, hörte sie hinter sich das Stampfen der davontrabenden Zugdrachen Margoros.
Hinter der Eingangstür musste sie erst einen düsteren Flur durchqueren, von dem zwei Treppen abgingen, bevor sie den Schankraum betrat. An einem der drei wackligen Tische saßen zwei ältere Männer; ohne Schuhe, in geflickten Hemden. An dem zweiten saß ein junges Paar. Das Mädchen wog ein bisschen zu viel, hatte aber ein hübsches Gesicht. Unter ihrem Stuhl lag ein Hund mit langem Fell. Der junge Mann kam ihr bekannt vor. Zumindest hatte sie schon einmal jemandem getroffen, der ihm sehr ähnlich sah.
Neben dem Tresen stand eine junge Frau; die Schürze kennzeichnete sie als die Wirtin. Nanja fragte nach einem Zimmer.
„Wie lange wollt Ihr bleiben?”
Nanja breitete die Arme aus. „Das weiß die Göttin! So lange, bis ich gefunden habe, was ich suche.”
Die Wirtin schmunzelte. „Ihr sprecht in dunklen Worten.”
Nanja hob die Stimme, wie Margoro ihr geraten hatte. „Ich suche eine Heilerin. Auf Gemona liegt ein Freund, der beim Erdbeben verschüttet wurde.” Sie vermeinte, aus den Augenwinkeln eine Bewegung an dem Tisch in der Ecke zu sehen.
„So braucht Ihr eine, die Zeit hat, mit Euch zu gehen. Habt Ihr denn ein Schiff?”
„Ich bin Nanja.”
Die Wirtin bekam große Augen, dann strahlte sie. „Welche Ehre für meine bescheidene Herberge. Ich werde mich für Euch umhören.”
„Mein Steuermann sagt, es brauche ein Wunder, dass der Matrose überlebt. Und wenn ich nicht bald komme, wird auch das nichts mehr helfen.”
„Es gibt keine Wunder.” Die Wirtin schien zu zögern, als sie diese Worte aussprach.
Nanja lächelte. „Ich glaube an die Allmacht der Götter. - Hast du einen guten Rum, Wirtin?”
Die Wirtin stellte eine Flasche und ein Glas auf den Tresen. „Ich gehe zu der alten Ratika.”
Nanja setzte sich an den dritten Tisch. Von dort hatte sie die anderen Gäste direkt im Blick und wirkte doch nicht neugierig. Sie kippte ihren Stuhl, bis er mit der Lehne an die Wand stieß; dann machte sie es sich bequem und legte die Füße auf den Tisch.
Die beiden Männer unterhielten sich lautstark über das bevorstehende Fest. Margoro hatte das Rennen großartig angekündigt und sie spekulierten über die fremden Renntiere.
Grübelnd trank sie ein Glas Rum nach dem anderen. Zwischendurch fragte sie sich, wo die Wirtin blieb. Aber wenn Margoro sie hierher geschickt hatte, vertraute er der Frau. Sie würde ihr nicht die Hexenjäger auf den Hals schicken.
Das Paar an dem anderen Tisch unterhielt sich flüsternd; der junge Mann sah immer wieder zu ihr herüber. Kannte auch er sie?
Als er lachte, fuhr Nanja hoch. Er musste einer der Söhne Katarans sein: entweder einer der Rebellenführer selbst oder er wusste, wo sie zu finden wären. Sie dachte an die Waffen aus Metall, die den Laderaum ihres Schiffes füllten. Vielleicht konnte sie sie verhökern, bevor sie nach Gemona zurückfuhren. Nur durfte Margoro nichts davon bemerken.
Sie packte die Flasche und ging zu den beiden hinüber. „Darf ich mich setzen?”
Die beiden sahen sich an; das Mädchen kaute auf ihren Lippen. Dann nickte er. „Wir haben gerade überlegt, ob wir dich ansprechen.”
Nanja zog die Brauen hoch. Dann schenkte sie den beiden die Gläser voll.
„Nämlich, wir haben gehört, dass du Hilfe brauchst”, fuhr er fort.
Das Mädchen blickte auf den Tisch, als sei ihr etwas peinlich. Nanja wartete darauf, wie es weitergehen mochte. Aber anscheinend war sie jetzt dran.
„Einer meiner Matrosen ist schwer verletzt. Wisst ihr eine, die mit mir gehen würde?”
„Sondria hat die Heilkunst gelernt. Übrigens, ich bin Wribald. - Wir sind nicht von hier; so kann sie fort.”
Wribald, natürlich; so hatte einer der Jungen geheißen. War nicht sein Bruder einer der Rebellenführer? Fürs Erste schien es Nanja jedoch nicht mehr sinnvoll, auf ihre Waffen zu sprechen zu kommen.
„Wenn du niemanden sonst findest”, sagte Sondria leise. „Ich weiß nicht, ob meine Fähigkeiten reichen. Und gewiss gibt es Erfahrenere als mich.”
„Aber nicht doch.” Wribald protestierte so laut, dass die beiden Männer zu ihnen herübersahen. Sofort senkte er wieder seine Stimme. „Ich weiß, dass Sondria gut ist.” Er zögerte einen Augenblick. „Bis zum Fest kannst du doch problemlos aus der Stadt verschwinden.”
Nanja musste sich beherrschen, um nicht loszulachen. Das war eine eindeutige Mahnung an das Mädchen, dass es die Gelegenheit nutzen sollte. Der Bursche war wenig geschickt. Vor wem musste Sondria auf der Hut sein, dass der Schutz der Rebellen nicht reichte - oder die Rebellen sie nicht schützen wollten?
Nanja stützte den Kopf auf beide Hände und musterte das Mädchen unverhohlen. Es machte einen sympathischen Eindruck. Wenn es auf der Flucht war, würde sie ihm helfen, gleich, ob es heilen konnte oder nicht. Aber über diesen Punkt brauchte sie Klarheit. Wenn sie auslief, musste jemand an Bord sein, der in der Lage war, Ron zu retten. Trotz der schwarzen Haare schien ihr Sondria kein Elfenblut in den Adern zu haben. Und sie war jung; zu jung wohl für eine Magierin.
Nanja entschloss sich, mit offenen Karten zu spielen. „Hat Sondria einen Grund, aus der Stadt zu verschwinden?”
Wribald riss die Augen auf. „Wieso? Wie kommst du auf die Idee?”
Nanja sah das Mädchen an. „Ist es so oder nicht? Sag mir die Wahrheit. Ich nehme dich mit - auf jeden Fall. Aber ich muss es wissen.”
Sondria senkte wieder den Blick; Wribald legte wie beschwörend eine Hand auf ihren Arm.
„Ich vertraue dir ein Leben an, Sondria. Er wird sterben, wenn du mich betrügst.”
„Es stimmt”, sagte das Mädchen leise und schob Wribalds Hand beiseite. „Lass mich!” Es blickte Nanja herausfordernd an. „Ja, ich bin auf der Flucht. Der Heilige und seine Mönche sind hinter mir her. Sie möchten mich tot sehen wie meinen Vater. Und die Rebellen auch - Wribalds Bruder, meine ich. Aber ich kenne wirklich Rituale, die zu heilen vermögen. Doch fehlt es mir an Übung.”
Nanja entspannte sich. „Behaupten die Mönche bloß, dass du eine Hexe bist oder besitzt du wirklich magische Fähigkeiten?”
Sondria biss sich auf die Lippen und schielte zu Wribald hinüber. Der wusste wohl nicht alles. Nanja entschied, dass ihr dieser abwägende Blick Antwort genug war und fragte nicht weiter.
Wribald richtete sich auf und sagte lahm: „Sondria ist keine Hexe; wir sind zusammen aufgewachsen.”
Was für eine Begründung. Nanja wurde nie müde, sich über die Männer zu amüsieren. Sie lächelte Sondria an. „Ich nehme dich auf jeden Fall mit.”
Sondria nickte nachdrücklich. „Ich werde deinem Matrosen helfen.”
Nanja war nun überzeugt, dass das Mädchen magische Fähigkeiten besaß und so focht sie es nicht weiter an, dass die Wirtin ergebnislos zurückkam.
Bald stand Margoros Drachenlenker in der Tür.
Als Sondria zögerte, sich von Wribald zu verabschieden, schlug Nanja ihm vor, sie zum Schiff zu begleiten.
Wribald errötete. „Das ist nicht nötig. Ich werde hier auf Sondria warten. Du bringst sie doch wieder zurück nach Kruschar, nicht wahr?”
„Natürlich komme ich zurück. Ohne die Pferde kann Margoro sein Rennen nicht veranstalten.”
Einer der alten Männer horchte auf, erhob sich leicht schwankend und kam auf Nanja zu. „Du ... du weißt mehr von den Renntieren?”
Nanja nickte amüsiert.
„Sag, auf wen ... auf wen sollen wir wetten?”, fragte sein Kumpan. „Wer ist schneller?”
Nanja grinste. „Ihr seid zu zweit. Wettet auf beide, dann gewinnt einer auf jeden Fall.”
Die Männer starrten sie mit dümmlichem Gesichtsausdruck an, viel zu betrunken um zu begreifen.
Nanja wandte sich an Wribald. „Es könnte sich für dich lohnen, wenn du zum Schiff mitkämst. Vielleicht wirst du feststellen, dass du bis zum Fest etwas Besseres zu tun hast als auf Sondria zu warten und hier herumzusitzen.”
Wribald sah erleichtert aus - als ob es ihm schwer gefallen wäre, Sondria alleine gehen zu lassen.
„Vorwärts”, befahl Nanja dem Drachenlenker. „Margoro bezahlt dich nicht fürs Herumstehen.”
Wribald kicherte. „Ich glaube nicht, dass er ihn überhaupt bezahlt”, flüsterte er.
Da fiel Nanja ein, dass sich auch auf der Dracheninsel die Sklaverei immer weiter ausbreitete. Sie fand es völlig unwirtschaftlich: wenn sie sich nur vorstellte, sie hätte ihre Matrosen auf Gedeih und Verderb am Hals. Aber diese Adligen mussten immer um die neueste Mode wetteifern, um ihren Reichtum zur Schau zu stellen. Eines Tages würde ihnen ihr Geprotze das Genick brechen.
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