Es war einmal ein kleines Mädchen, das lebte mit Vater und Mutter in einer alten Wassermühle am Rande des Dorfes. Sorgsam nutzte der Vater die wilde Kraft des Baches, um das Feuer in seiner Schmiede in Gang zu halten: Unaufhörlich drehte das Wasser dafür ein großes eisernes Rad.
Hinter der Mühle sammelte sich der Bach über steilen Felsen, um sich dann jählings in die Tiefe zu stürzen. Hoch sprühte die Gischt und ließ sich in schimmernden Perlen auf den Büschen nieder, welche sich über den brausenden Bach neigten. Dort saß oft das Mädchen und wurde nicht müde, dem Donnern des Wassers zu lauschen.
„Lena, was machst du da?“, fragte sie der Vater zuweilen.
„Ich höre ihm zu!“
Und der Vater lächelte und kehrte zu seinem Amboss zurück.
Im Winter setzte es sich mit der Hauskatze ans Fenster und konnte sich nicht sattsehen an der Wunderwelt der glitzernden Eiskristalle, die der Frost am Rande des Wasserfalls erschaffen hatte. Und wenn die Mutter es dann fragte, was es täte, so antwortete es: „Ich schaue ihm zu!“
Der Bach nämlich, der wie ihr Kätzchen munter von einem Stein zum nächsten hüpfte, die Abhänge hinuntersprang und sich durchs Gras wälzte, dünkte Lena ein lebendiges Wesen grad wie die Katze. Nach den Eltern waren ihr beide das Liebste auf der Welt. Und sie wünschte Tag um Tag, dass sich ihr der Wassergeist selber zeigen möge, so wie es einst der Großmutter geschehen war.
So gingen die Jahre dahin. Dann kam ein Frühling, da wollte es gar nicht regnen. Die Saat auf den Feldern verdorrte und die Bauern begannen zu klagen. Auch der Bach wurde immer magerer. Aber er speiste sich aus Quellen tief im Inneren der Berge, und so wusste der Schmied seine Tochter zu beruhigen, dass er doch nicht versiegen würde.
Als der Sommer ins Land zog, wurde die Not noch größer. Erbarmungslos brannte die Sonne vom Himmel und das Vieh auf den Weiden schrie vor Durst. Lenas Bach war schmal und schwach geworden, doch immer noch trieb er das Mühlrad an.
Stundenlang saß Lena am Ufer und starrte auf die Rinnsale. Manchmal weinte sie bitterlich, denn sie fürchtete doch, er wäre bald ganz verschwunden.
Zuweilen kam wohl der Vater, sie zu trösten. „Wasser ist ewig, mein Kind“, pflegte er zu sagen. „Und nichts auf der Welt ist mächtiger. Es besiegt das Feuer; kein Stein hält ihm stand. Und es ist stärker als wir Menschen.“
„Er spricht nicht mehr mit mir“, jammerte Lena dann.
„O doch“, entgegnete der Vater lächelnd. „Hör nur genau hin.“ Und er nahm ein Steinchen auf und ließ es ins Wasser platschen: „Horch! Auch das ist seine Stimme.“
Eines Mittags kamen zwei alte Bauern zum Vater. “Höre, Schmied„ sprachen sie. "Wir brauchen Wasser für unser Vieh und unsere Felder. Wir werden talwärts dem Bach ein neues Bett graben und ihn auf unsere Äcker leiten."
„Nein!“, schrie Lena auf, die alles mit angehört hatte. „Das könnt ihr nicht tun!“
„Still, Kind“, wies der Vater sie zurecht. „Davon verstehst du noch nichts.“
Lena riss die Augen auf, erschrocken ob der unerwarteten Rüge. Doch dann fasste sie sich ein Herz: „Vater, sie können die Tiere doch herführen zum Tränken. Aber sie dürfen den Bach nicht einsperren. Er wird sich darüber ärgern.“ (...)Leseprobe aus: "Magische Geschichten". Anthologie.
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