5.2.12

#SampleSunday - Königliche Republik ... zehntes Kapitel ...

 Gennaro Annese, der zum Führer des Aufstands geworden ist, hat Neapel zur unabhängigen Republik erklärt und den Papst und Frankreich um  Hilfe gebeten. ...
 

Samstag, 16. November 1647


Mirella erwachte frierend. Das Feuer im Kamin war zu einem glimmenden Aschehaufen zusammengesunken; sie kroch tiefer unter ihr schweres Plumeau und rollte sich zusammen.
Von draußenkam die trällernde Stimme eines jungen Mannes; was fiel ihm ein so früh am Morgen?
Die Franzosen waren gekommen! Mirella sprang mit einem Satz aus dem Bett: Der Junge da draußen hatte guten Grund zu singen.
Sie riss die Tür auf. „Gina, hilf mir beim Anziehen!“
Die Treppe knarrte, während Mirella ein Kleid nach dem anderen aus dem Schrank nahm und aufs Bett warf. Mit einem dunkelgrünen Cretonnekleid stellte sie sich vor den Spiegel. „Nein.“ Sie hielt sich das rote Samtkmit dem schwarzen Pelzbesatz an den Ärmeln an. „Das ist gut!“
Gina trat mit dem dampfenden Wasserkrug ein und musterte sie mit missbilligend gekrauster Stirn. „Willst du damit in die Kirche gehen? In einem Kleid, rot wie die Sünde?“
Mirella drehte sich lachend um. „Aber es ist kalt. Ich werde meinen Umhang darüber tragen.“
„Und warum willst dich so fein machen, wenn es doch niemand sieht?“
„Wer weiß!“ Sie zog sich das Batisthemd über den Kopf.
 „Bestimmt werden die französischen Demoisellen zum Gottesdienst erscheinen. Sollen wir ihnen nicht zeigen, dass eine Neapolitanerin ihnen in nichts nachsteht?“
„Für deine Hoffart wirst du in die Hölle kommen.“
„Dort ist es wenigstens warm.“
Gina goss das Wasser in die Waschschüssel. Eine Dampfwolke beschlug den Spiegel und das Fenster, während Mirella sich zu waschen begann. Sie fuhr mit der Hand über den Spiegel, aber er war gleich wieder blind.
„Es gibt keine französischen Demoisellen. Der Herzog ist zum Krieg gekommen, nicht zum Ball.“
„Zum Kriegführen?“ Empört fuhr Mirella herum. Während sie sich umwandte, fegte sie mit dem Ellenbogen die Schüssel zu Boden. Unbeeindruckt blitzte sie Gina an. „Wir haben ihn gerufen, damit endlich Frieden herrscht. Man kann sich ja gar nicht mehr auf die Straße trauen.“
„Ach Kind!“
„Ich bin kein Kind mehr!“ Mirella langte nach einem Handtuch.
Gina legte die Scherben auf die Kommode und nahm ein zweites Handtuch. „Lass mich das machen.“
„Ich bin kein Kind mehr! Wisch auf!“
Kaum war die Magd draußen, legte Mirella das Handtuch fort, schlüpfte in die Unterkleider und streifte vorsichtig das rote Kleid über den Kopf. Wenn sie es erst anhatte, würde Gina sich geschlagen geben.
Als Gina mit dem Wischlappen zurückkam, saß Mirella auf dem Bett und rollte den ersten Seidenstrumpf auf.
„Das ist kein Wetter für Seidenstrümpfe.“ Gina ging auf die Knie und nahm das vergossene Wasser auf, dass noch nicht zwischen die Dielen gesickert war.
Mirella seufzte. War die Anarchie jetzt schon bis zu ihnen in den Palazzo vorgedrungen, dass Gina so respektlos war?
Nachdem Mirella den zweiten Strumpf angezogen hatte, trocknete Gina sich ihre Hände ab, schnürte mit viel Gebrumme und Gemurre Mirella das Mieder und schloss die Haken am Kleid.
Mirella hob den Rock an und drehte sich vor dem Spiegel. „Jetzt wird es bald wieder Bälle geben.“ Sie ließ sich aufs Bett zurückfallen. „Das war das Ärgste!“
Gina murrte wieder. „Das Ärgste ist, dass es kaum noch Fleisch gibt in der Stadt. Die Spanier werden sich nicht beeindrucken lassen.“
Mirella stellte sich vor den Spiegel und blies die Backen auf. „Ja, vernünftig essen stünde mir auch gut zu Gesicht.“
Enzo öffnete die Tür und schaute zu ihr herein. „Warum bist du noch nicht fertig! Es wird voll werden. Alle wollen dabei sein, wenn wieder ein Anjou den Schutz unserer Stadt übernimmt.“
Mirella sprang die Treppe hinunter. Sie nahm den schwarzen Wollumhang aus dem Flurschrank und zog sich die Kapuze übers Haar. Dann lief sie nach draußen zu Dario.
Karossen und Fuhrwerke zuckelten in einer langen Reihe die Straße entlang und stauten sich an der Kreuzung zum Hafen. Die Menschen, die an ihr vorbeieilten, hatten ein Lachen im Gesicht. Fabrizio stand neben dem Schlag und pfiff ein Spottlied auf die Spanier.
Varese trat gegenüber aus der Tür, begleitet von seinen beiden Töchtern. „Guten Morgen, Enzo! Hat Er gesehen?“ Er deutete mit seinem Spazierstock zum Himmel. „Die Sonne drängt sich durch den Nebel. Wenn das kein gutes Omen ist.“
Dario knurrte. „Vor allem wird es bedeuten, dass die Spanier wieder sehen können, wohin sie schießen.“ Wieso schien er die allgemeine Freude nicht zu teilen?
Es brauchte eine Stunde, bis sie in dem dichten Verkehr zur Kathedrale gelangten. Die letzten Meter gingen sie zu Fuß zu einem der Seiteneingänge nahe ihrer Kirchenbank.
Die Menschen unterhielten sich quer durch das Kirchenschiff, als seien sie auf dem Marktplatz. Im hinteren Teil standen sie dicht gedrängt; auf den Bänken saßen sie zusammengequetscht wie Thunfische in einer zu vollen Kiste. Die kleineren Kinder quengelten auf den Schößen ihrer Eltern. Dies würde keine geordnete feierliche Messe werden.
Sie drängten sich durch die Besucher, die im Seitenschiff standen. Die Oliveto saßen schon in ihrer Bank. Die Marchesa hatte ein weißes Spitzentuch zwischen den Fingern und betupfte sich die Augen. Weinte sie etwa?
Stefanie drehte sich um, als Mirella sich hinter ihr hinkniete, und zwinkerte ihr zu.
Mirella faltete ihre Hände dicht vor dem Gesicht und flüsterte. „Hast du sie schon gesehen?“
„Nein.“ Stefania grinste. „Suchst du immer noch einen Bräutigam für mich?“
Sie glucksten vor Vergnügen, bis die Marchesa Stefania mit ihrem Fächer auf den Arm schlug.
Mirella setzte sich hin. Nicht einmal zur Ostermesse hatte sie die Kirche jemals so voll gesehen. Sogar einige der spanischen Familien waren gekommen; dabei war nicht einmal Sonntag. Don Rodrigo saß auf seinem angestammten Platz. Also war er ein viel noblerer Verlierer als Dario ihm zugetraut hatte. Ihr künftiger angeheirateter Onkel; sie nickte ihm zu, als sich ihre Blicke trafen. Er erwiderte den Gruß mit einer Kopfbewegung, doch auf diese Entfernung konnte sie im Halbdunkel der Kirche seinen Gesichtsausdruck nicht deuten.
Dann flutete Tageslicht durch das Hauptportal. Mirella richtete sich halb auf, sodass sie an Enzo vorbei bis zum Eingang sah.
Jeweils zwei Männer von Pastinas Miliz stellten sich rechts und links der Kirchentüren auf. Einer mit gezogenem Schwert, der andere mit einer Standarte: Zwei aufrecht stehende Löwen, ein Wappenschild in den Pfoten, zierten das Banner des Herzogs. Diese Löwen waren der einzige Unterschied zur Fahne Neapels, die das Kreuz des Königs von Jerusalem und einen Turnierkragen mit drei Brückenpfeilern trug. Und die goldenen Lilien des Hauses Anjou, auf dessen Nachfahren die Neapolitaner nun all ihre Hoffnungen setzten.
Kardinal Filomarino trat aus der Sakristei, begleitet von zwei Messdienern, die Kreuz und Weihrauch trugen. Sie gingen an den nun leiser tuschelnden Menschen vorbei zum Portal.
Mirella reckte sich noch höher.
Da stand Enzo mit einem Lächeln auf. „Setz dich an den Rand, Naseweis.“
Von draußen erklangen Rufe der Begeisterung; die ersten in der Kirche schlossen sich an. Filomarino brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen. Dies war das Haus Gottes.
Henri, Duc de Guise, betrat die Kathedrale.
Er war unglaublich jung; Mitte Dreißig vielleicht – wie hatte er in seinem kurzen Leben all die Dinge untergebracht, von denen sie gehört hatte? Erzbischof in Reims, zwei Ehen, eine Verschwörung gegen den König von Frankreich, eine Aussöhnung und eine erneute Verschwörung. Und nun hier für die Interessen Frankreichs. Oder für seine eigenen?
Der Herzog küsste den Bischofsring, wie es sich gehörte; anschließend schüttelten die beiden Männer sich die Hand. De Guise zog sein Schwert und gab es einem der Milizionäre. Dann schritt er an Filomarino vorbei zum Altar.
Seine Soldaten, die hinter ihm die Kirche betreten hatten, folgten ihm einer nach dem anderen. Filomarino begrüßte jeden einzelnen von ihnen mit Handschlag, nachdem sie gleichfalls seinen Ring geküsst hatten.
„Verräter!“, zischte Dario.
Mirella wandte sich überrascht zu ihm um.
„Sie scheinen sich gut zu kennen.“
Enzo legte ihm die Hand auf den Arm. „Filomarino hat ihn sicher gestern schon empfangen.“
Einer der jungen Soldaten ging so dicht an Mirella vorbei, dass er sie mit seinem angewinkelten Ellenbogen streifte. Dieser hatte sein Schwert nicht abgelegt, sondern umklammerte den Griff, als sei er bereit, es jeden Moment zu ziehen. Also trauten sie den Neapolitanern nicht. Dario hinter ihr knurrte aufgebracht. Sie drehte sich zu ihm um, kreuzte seinen finsteren Blick . Vielleicht hatten sie so unrecht nicht.
Der junge Soldat ging die Stufen zum Altar hoch und stellte sich neben den Herzog. Immer noch die Hand am Schwert.
Die anderen Männer des Gefolges setzten sich auf die vorderen Kirchenbänke, die der Küster freigehalten hatte. Filomarino begann die Messe zu lesen.
Mirella kniete sich zum Schuldbekenntnis. Da lehnte sich Stefanie zurück. „Adrett sieht er aus, der Herzog.“
„Nicht nur der“, flüsterte Mirella, die Augen auf den Mann neben dem Herzog gerichtet.
Stefania folgte ihrem Blick. „Der gefällt dir? Der ist höchstens zwanzig; bestimmt ein Grünschnabel. Ein Milchbart.“
„Er hat doch gar keinen!“ Mirella unterdrückte das Glucksen in ihrer Kehle. „Der Herzog ist schon verheiratet.“
„Seine Ehe ist gerade annulliert worden.“
Mirella prustete los, was ihr von Enzo einen heftigen Stoß in den Rücken einbrachte und von der Marchesa d’Oliveto einen zornigen Blick. Aber im weiteren Verlauf der Messe hörte sie dennoch kaum zu; sie hätte hinterher nicht zu sagen vermocht, worüber der Kardinal gepredigt hatte. Den Augenblick zur Kommunion hätte sie auch verpasst, wenn Enzo sie nicht aus der Kirchenbank geschoben hätte.
Mirella konzentrierte sich und sprach das vorgeschriebene Amen. Dann ging ihr Blick wieder zu dem jungen Soldaten an der Seite des Herzogs. Er hatte den Blick auf die Menge gerichtet, seine Augen schienen wachsam hin und her zu gehen. Dass sein spärlicher Bart kaum den unteren Teil seiner Wangen bedeckte, ließ ihn tatsächlich sehr jung erscheinen; höchstens Mitte Zwanzig. Nein; er war gewiss jünger als Dario. Aber er trug zwei Ordenssterne. Und schien die persönliche Wache des Herzogs zu sein.
Dann war die Messe zu Ende.
De Guise stand auf und trat an den Rand des Altarraums. Er schien den Blick jedes einzelnen einfangen zu wollen, so lange stand er regungslos da.
Einer der Messdiener brachte eine schwere Bibel aus der Sakristei, deren lederner Einband mit Gold beschlagen war. Kardinal Filomarino nahm sie ihm ab und ging zum Herzog.
De Guise legte die Hand auf die Bibel und sprach den Schwur der Dogen Neapels. Seine schöne volle Stimme füllte ohne Mühe das ganze Kirchenschiff. Er sprach das Neapolitanisch mit einem schweren Akzent, aber er kam keinen Augenblick ins Stocken; vermutlich hatte er die Worte auswendig gelernt.. Dann kniete er sich vor dem Kardinal auf eine mit rotem Samt beschlagene Bank.
Filomarino nahm aus der Hand eines zweiten Priesters die Königskrone von Neapel und setzte sie dem Herzog auf. Dann trat er einen Schritt zurück und hob die Hände, um ihn zu segnen. Aber bevor er dazu kam, stand de Guise auf und wandte sich wieder der Menge zu.
„Ich danke Euch für die Ehre, mir den Schutz Eurer jungen Republik anzuvertrauen. Ich gelobe, sie bis zum letzten Atemzug zu verteidigen und die Rechte eines jeden Bürgers zu achten und zu bewahren.“
„So sieht er aus!“ Dario stieß ein unwilliges Grunzen aus und erhob sich halb von seinem Platz. „Geck!“
„Du hast Vorurteile!“ Enzo hielt ihn fest. „Warte es doch erst einmal ab.“
„Dafür ist keine Zeit.“ Dario hatte seine Stimme erhoben und mehrere Leute drehten sich zu ihnen um.
„Still!“, zischte der Marchese d’Oliveto von vorne.
Dario schnaufte noch einmal voller Empörung; dann setzte er sich wieder hin.
Gennaro Annese stieg die Stufen zum Altar hoch, auf einem schwarzen Samtkissen eine überdimensionale Kopie des Stadtschlüssels.
Er ließ sich vor de Guise auf ein Knie nieder. „Seigneur, im Namen des Rats überreiche ich Euch den Schlüssel der Stadt, die der Mittelpunkt des Königreichs Neapel ist.“ Aber er stand wieder auf, bevor er ihm den Schlüssel hinhielt. Filomarinos Bewegung, mit der er Annese auf den Knien halten wollte, kam zu spät.
Dann verließen die französischen Soldaten ihre Plätze und stellten sich zu beiden Seiten des Gangs auf, bevor de Guise, immer noch die Krone auf dem Kopf, die Kathedrale verließ.
Die Soldaten hielten die Kirchenbesucher zurück, die ihre Bänke verlassen wollten, während der neue Doge noch auf den Stufen vor der Kathedrale stand. Er sprach zu den Menschen, die draußen geblieben waren. Seine Worte mussten ihnen gefallen, denn er wurde immer wieder von Beifall unterbrochen.
„Sie werden sich noch wundern“, fauchte Dario.
„Mäßige dich!“ Enzo klang zornig. Wie oft hatte er an diesem Morgen schon eingegriffen, um Dario im Zaum zu halten?
Mirella drehte sich zu den beiden um. „Dario, du bist ein Miesepeter. Was soll er denn anstellen können mit seinen paar Männern?“
Die Soldaten verließen endlich die Kathedrale und die Kirchenbesucher folgten ihnen nach draußen.
Auch Mirella wandte sich zum Hauptportal, aber Enzo hielt sie auf. „Fabrizio wartet in der Nebenstraße.“
„Dort sehe ich aber nichts mehr.“
Enzo schob sie zum Seiteneingang. „Wenn dir so viel daran liegt, dann nehme ich dich mit, wenn ich in den Palazzo Reale fahre.“
Die Kutsche des Kardinals rollte an ihnen vorbei; neben Filomarino saß de Guise mit angespanntem Gesicht. Sie wurden von Reitern der Stadtmiliz flankiert. Anschließend folgte der neue Prinz von Massa, danach die Männer des Herzogs.
„Wo haben sie eigentlich die Pferde her? Ich dachte, sie sind mit einer Schaluppe gekommen.“
„Rate, wessen Pferde das sind.“ Dario schnaubte verächtlich.
Mirellas Blick traf sich mit dem des jungen Soldaten. Ihr wurde warm, bestimmt errötete sie.
Stefania tauchte mit ihren Eltern hinter ihr auf. „Vater sagt, Filomarino hat für heute Abend eingeladen, damit der neue Doge die Adligen und Patrizier der Stadt kennen lernt. Kommt ihr auch?“
„Nein!“, sagte Dario.
„Ich hoffe es.“ Mirella sah ihren Vater an. „Haben wir denn eine Einladung?“
„Sicher. Und wir werden hingehen. Auch du, Dario.“
„Es wird todlangweilig“, sagte die Marchesa. „Man wird über Krieg und Geschäfte reden und wir Frauen dürfen die Tafel zieren. Und vielleicht uns endlich wieder satt essen.“ Sie fächelte schwungvoll vor ihrem Gesicht herum. „Aber das sind die neuen Herren.“
„Sie schützen uns vor den Spaniern, meine Liebe.“
„Pah!“ Die Marchesa rauschte davon.  

 
Zehntes Kapitel aus: "Köngliche Republik". Historischer Roman. 
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 Leseproben aus den vorhergehenden Kapiteln als Sonntags-Sample der vorangegangen Wochen.

Zum historischen Hintergrund Beiträge auf meinem Werkstatt-Blog oder der FB-Buchseite.

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