29.1.12

#SampleSunday - Königliche Republik ... Drittes Kapitel ...

12. August 1647

Am nächsten Morgen ließ Mirella sich von Fabrizio erneut nach Pizzofalcone bringen.
Es waren ungewöhnlich viele Menschen auf den Straßen, die in Gruppen beieinander standen und in aufgeregte Gespräche verwickelt waren. Nachdem auch Salerno sich erhoben hatte, konnte selbst die Predigt eines Kardinals niemanden mehr mäßigen.
Bald darauf ertönten zwei Schüsse. Erschrocken ließ Mirella Fabrizio anhalten; aber da keine weiteren folgten, war es wohl ungefährlich weiterzufahren. Er bog dennoch von ihrem Weg ab und machte einen großen Bogen um die Piazza del Mercato.
Auf dem Pizzofalcone dagegen herrschte der Alltag. Zwei Mal musste Fabrizio einen Umweg fahren, weil Fuhrwerke mit Sand und Tuffstein in den engen Gassen ausgeladen wurden und ihnen den Weg versperrten. Selbst in diesem abgelegenen Viertel wurden mangels freier Flächen Häuser aufgestockt.
Vor dem „Gallo bianco“ stieg Mirella aus. Die Sonne spiegelte sich in den Scheiben des Wirtshauses und verwehrte ihr den Blick hinein. Sie drückte langsam die Klinke hinunter. Aber die Tür war verschlossen.
Gegenüber klapperte ein Fensterladen. Kurzentschlossen ging sie über die Straße und klopfte dort.
Nach einer Weile wurde das Fenster geöffnet und eine zahnlose alte Frau blickte zu ihr herunter. „Was ist?“
„Sie verzeihe mir, aber ... Wann hat der ‚Gallo bianco’ auf?“
„Was will Sie dort?“ Die Alte strich ihre dünnen Haare zurück. Sie kniff die Augen zusammen und deutete auf Fabrizio. „War Sie nicht gestern schon hier?“
Mirella  fühlte sich ertappt. Sie versteifte sich; aber dann wurde ihr klar, dass sie die Gelegenheit nutzen konnte. „Aber ich habe etwas vergessen und darum ....“ Wie absichtslos hörte sie auf zu sprechen und sah scheinbar verlegen zu Boden. „Ich bin manchmal ein bisschen schusselig.“
Die alte Frau klang plötzlich sehr viel freundlicher. „Aber das macht doch nichts, Kindchen. Der Wirt wohnt links daneben. Geh Sie nur und klopfe.“ Sie reckte sich weiter aus dem Fenster. „Um diese Zeit ist er meist schon wach. Ich denke doch, dass er an einem Tag wie diesem ...“
Also gehörten der „Gallo bianco“ und das Nachbarhaus tatsächlich zusammen. Bestimmt gab es eine Tür, die beide Häuser miteinander verband. Mirella verabschiedete sich schnell mit einem höflichen Knicks, bevor die Alte sie mit ihrem Redefluss überschwemmen konnte. Sie raffte ihre Röcke und lief mit einem Tanzschritt los.
„Fabrizio, wem hast du gestern Darios Brief gegeben?“
Fabrizio sah irritiert aus. „Habe ich etwas falsch gemacht? Der Signore sagte, es sei schon in Ordnung; er würde ihn weitergeben.“
„Aber du warst doch im Haus.“
Er nickte. „Sicher. Sollte ich den Brief etwa dem Kind geben, das mir geöffnet hatte?“
„Nein; es war alles ganz richtig.“
„Was tun wir dann hier?“
„Dario erwartet eine Antwort“, fiel ihr ein zu sagen. „Aber wir wollen uns doch nicht lange aufhalten lassen. Wenn du also wüsstest, nach wem ich fragen soll?“
Fabrizio wiegte bedauernd den Kopf. „Frag Sie, ob der Edelmann eine Nachricht hinterlassen hat.“
„Der Edelmann?“ Sie hatte gedacht, er wüsste besser Bescheid.
Fabrizio wurde ganz Eifer. „Hat Sie ihn nicht selber gesehen?“ Der Ziegenbock!
Mirella ging zum Haus des Wirts und zog an der Glocke.  Es war so still hier – ob alle auf die Piazza gegangen waren? Am Ende gab es dort Wichtigeres zu erfahren.
Schließlich wurde die Tür geöffnet. Eine Frau in einem verblichenen Kleid aus grobem Hanfleinen musterte sie mit griesgrämigem Gesicht. „Die Signorina will zu uns?“
„Mein Bruder hat gestern einen Brief abgeben lassen und ich soll fragen, ob es eine Antwort gibt.“
„Ich weiß von keinem Brief.“ Sie drehte sich um und rief in den Flur: „Giacomo! Giacomo, hast du gestern einen Brief bekommen?“
Irgendwo scharrte ein Möbelstück über Steinboden. Dann quietschte etwas und ein Vogel zeterte. Am Ende des Flurs trat ein Mann mit Bartstoppeln auf den Wangen und einem Ziegenbart unterm Kinn aus einer Tür.
Hier wimmelt es von Ziegen, kam Mirella in den Sinn. Sie hielt sich schnell die Hand vor den Mund, um ihr Lachen zu verbergen.
„Ich habe keinen Brief bekommen!“ Er gähnte ungeniert, während er den Flur entlang schlurfte. Seine Zähne waren von dunklen Flecken übersät; ein Eckzahn fehlte.
„Scandore. – Unser Kutscher hat hier gestern einen Brief ausgehändigt. Dem Edelmann, der bei Ihm zu Gast war.“
„Davon weiß ich nichts.“
Mirella versuchte, ihre Ungeduld mit einem verbindlichen Lächeln zu verbergen. „Ist er wieder da?“
„Wer?“
„Der Edelmann. Er ging kurz darauf weg.“
Der Wirt kam näher und schnürte sich im Gehen die Hose zu. „Wann soll das gewesen sein?“
„Am Nachmittag.“ Mirella trat von einem Fuß auf den anderen. War der Mann so dämlich oder wollte er nicht mit der Sprache herausrücken? „Bitte, es ist wichtig. Mein Bruder erwartet eine Antwort.“
„Am Nachmittag war ich in meinem Wirtshaus.“
„Eben.“ Sie holte tief Luft. „Und der Duca de Maddaloni war am Nachmittag bei Ihm.“
Er riss die Augen auf, als sie den Namen nannte. Aber nur eine Sekunde; dann wirkte er wieder so verschlafen wie zuvor. „Der Herzog hat meine bescheidene Osteria beehrt wie immer, wenn er sich mit seinen Leuten trifft.“ Das klang schon freundlicher. „Aber von einem Brief weiß ich trotzdem nichts.“ Er zog die Hose ein Stück höher. „Ist Sie sicher, dass der Herzog den Brief in Empfang genommen hat?“
„Wer sonst, wenn nicht er?“
„Ich werde ihn fragen, wenn er wiederkommt.“ Wenigstens hatte er jetzt mit seinen Gegenfragen aufgehört; vielleicht würde er ihr doch etwas erzählen. Das, was Dario ihr verschwieg.
„Wann?“
Giacomo musterte sie von oben bis unten, während er nachdachte; so lange, bis seine Frau ihn in die Seite stieß. Hoffentlich hielt die Alte sie für ein harmloses Kind; sonst würde sie ihm nach ihrem Weggehen den Kopf waschen und es wäre vorbei mit seiner Hilfsbereitschaft. Solche Männer standen immer unter der Fuchtel; entweder der ihrer Frauen selber oder der Schwiegermütter.
„Käme Sie morgen Abend wieder; dann könnte ich Ihr die Antwort des Herzogs geben. So er eine für Ihren Bruder hat.“ Er bohrte sich in der Nase und betrachtete dann den Popel zwischen seinen Fingern. „Aber ein junges Ding wie Sie sollte abends zu Hause bleiben. Warum kommt er nicht selber?“
Sie reckte den Kopf. „Er hielt es für zu verfänglich.“
Die Andeutung eines Lächelns ging über sein Gesicht. „Vorsichtiger Mann, Ihr Bruder.“ Er trat noch einen Schritt näher und blickte hinaus. „Aber dann sollte Sie auch vorsichtiger sein und nicht mit einer Kutsche kommen, die einer wiedererkennen könnte.“
Mirella nickte. „Er hat wohl Recht. Ich werde morgen Abend das letzte Stück zu Fuß kommen. In dieser Gasse wohnen gewiss nur ehrbare Leute.“ Wie Er, verkniff sie sich zuzufügen.

Auf dem Rückweg wurde die Kutsche kurz vor der Piazza del Mercato von einem Mann mit einer Hellebarde aufgehalten. „Sie kann hier nicht weiterfahren, Signorina!“

„Aber warum denn?“
„Auf der Piazza findet ein Tribunal statt. Kehrt um.“
In diesen Tagen mochte alles wichtig sein, was in der Stadt passierte. Die Glocken der Santa Maria del Carmine hatten eben die elfte Stunde geschlagen. Zeit genug, rechtzeitig zum Mittag nach Hause zu kommen.
Mirella stieg in der Gasse neben der Kirche des Sant'Eligio Maggiore aus. Sie tippte einem älteren Mann auf die Schulter. „Was geschieht hier?“
„Die Seidenweber fordern den Erlass der Steuern.“
„Und? Bekommen sie ihren Willen?“
„Dem einen erlässt der Vizekönig die Steuern und dafür setzt er sie den anderen hoch. Oder erfindet neue.“ Er schüttelte den Kopf. „So geht das doch nicht.“
Er drängte sich in Richtung Piazza durch die Menge. Mirella folgte ihm geschwind, ehe sich der Weg wieder schloss. Sie erntete manchen misstrauischen Blick; in ihrem feinen Brokat fiel sie auf. In dem Gedränge auf der Piazza verlor sie ihren Führer und niemand mochte ihr Platz machen. Aber die Nachdrängenden schoben sie mit Ellenbogen und Fußtritten weiter; einer packte sie gar um die Taille, als ob sie dadurch dünner würde. Nun konnte sie nicht mehr zurück; sie musste darauf setzen, dass vielen ihr Essen wichtiger wäre als das Spektakel.
Auf einem Podest neben dem Delphin-Brunnen, das dort seit den Tagen Masaniellos stand, krächzte der alte Genoino mit ausgebreiteten Armen zur Menge hinunter. Doch gegen deren Geschrei kam er mit seiner heiseren Stimme nicht mehr an.
Ein junger Mann, der die rote Mütze der Fischer trug, sprang zu ihm hoch. Er packte Genoino am Arm und versuchte, ihn herunterzuzerren.
„Nach Hause. Geh nach Hause!“, brüllten einige um Mirella herum.
Sie zuckte zusammen, aber natürlich galt es nicht ihr, sondern denen auf dem Podest. Oder einem der beiden.
Ein dritter Mann sprang hoch. Er stellte sich an den Rand und zog eine Pistole aus seiner Schärpe. Ein Schuss in die Luft; die Menge verstummte.
„Wir lassen uns nicht länger betrügen.“ Er hielt den Menschen seine Hände hin. „Wir arbeiten sieben Tage in der Woche von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang; und doch reicht es nicht, um unsere Familien zu ernähren. Schluss damit!“
Sie brüllten Zustimmung; viele schwenkten Knüppel, Hellebarden und manch einer auch eine Schusswaffe.
Als es wieder leiser wurde, fuhr der Mann fort: „Aber es wäre kaum besser ohne die gabelle! Wir müssen verhindern, dass die Preise weiter sinken.“
„Wie willst du das erreichen?“ Genoino hinter ihm hatte seine Stimme wiedergefunden.
Der Mann drehte sich zu ihm um. „Du wirst es sehen.“ Er schwenkte beide Arme und wies zum Hafen. „Kommt mit!“ Dann sprang er herunter und verschwand in der Menge.
Mehr und mehr Menschen verließen die Piazza. Mirella wurde beiseite gedrängt. Die meisten schienen ausgerechnet an ihr vorbei zu wollen. Sie erreichte das Portal der Basilika und blickte den aufgebrachten Menschen hinterher.
Dann tauchte der Mann vor ihr auf, der die Menge zum Mitkommen aufgefordert hatte. Einen Moment kreuzten sich ihre Blicke; er grinste sie herausfordernd an. Kannte er sie?
Mirella betrat die Kirche und ging durch einen Seiteneingang hinaus zur Kutsche. Fabrizio hielt die Pferde am Kopfzeug und sprach beruhigend auf sie ein.
Sein Blick leuchtete auf. „Ich war in Sorge, Signorina. Lasst uns fort von hier, bevor man Sie erkennt.“ Er riss den Schlag auf und streckte ihr die Hand entgegen.
Sie lächelte. „Einer hat mich wohl erkannt.“
Fabrizio sah sie erschrocken an.
„Was ist schlimm daran?“
„Sie ist die Tochter Scandores.“ Natürlich war sie aufgefallen; aber man tat doch einem jungen Mädchen nichts.
Nachdem sie eingestiegen war, sah er sich wachsam um. „Hat Sie nicht begriffen, was sie vorhaben?“
„Doch. Sie wollen mehr Geld für ihre Familien.“
Er schüttelte den Kopf. „Sie wollen sich die Konkurrenz vom Hals schaffen.“ Bevor sie nachfragen konnte, was er damit sagen wollte, sprang er auf den Bock.
Nachdem sie das Gewühl hinter sich gelassen hatten, jagte er die Kutsche in einem Tempo durch die Gassen, wie Mirella es noch nie erlebt hatte. Vor dem Haus bremste er so abrupt, dass die Pferde zornig wieherten. Er sprang ab und rannte die Stufen zum Eingang hinauf. Dort warf er sich regelrecht gegen die Tür statt anständig zu klopfen.
Als er im Haus verschwand, raffte Mirella ihre Röcke und kletterte allein aus der Kutsche.
Dario stürmte an ihr vorbei, gefolgt von Fabrizio. Dann kam auch Enzo.
„Bleib Er zu Hause, Vater. Ich mach das schon.“ Dario stieg in die Kutsche und Fabrizio jagte davon, bevor Enzo alle Stufen hinuntergegangen war.
„Vater!“
Er drehte sich zu ihr um. „Sag Gina, sie soll nicht mit dem Essen auf uns warten!
„Was ist denn los?“
„Tu, was ich dir sage.“
Gleich darauf stand Enzo im Hof und rief die Dienstboten zusammen. Die beiden Gärtner, die Stallburschen und der alte Hausdiener griffen sich jeder einen Eimer und rannten hinaus. Enzo sattelte selbst sein Pferd und folgte ihnen.
Gina beobachtete sie durch die offene Küchentür und zerrte an dem Handtuch, das sie zwischen den Fingern hielt. „Sie werden nichts ausrichten. Sie kommen zu spät!“
„Aber was ist denn los?“
Gina starrte sie fassungslos an. „Du warst doch selber dort! Hast du es denn nicht begriffen?“
„Aber ...“ Mirella sah den Mann von der Piazza vor sich und jetzt fiel es ihr ein: Sie hatte ihn im Kontor gesehen; er war einer von Enzos Lieferanten.
Gina hackte mit solch grimmigen Gesicht auf die Zwiebeln ein, als wolle sie sie totschlagen. In ihren Augen standen Tränen. Sie wischte sich die Hand an der Schürze ab und dann mit der Schürze übers Gesicht. „Madonna, sind die Zwiebeln scharf!“
Argwöhnisch sah Mirella ihr zu. „Lass mich das machen.“
„Das gehört sich nicht.“
Mirella nahm ihr das Messer weg.
Gina schluchzte auf, während Mirella das Hackbrett zu sich heranzog. „Du ruinierst dir das Kleid.“
Unwillkürlich blickte Mirella an sich herab. „Es ist doch bloß ...“ Florentiner Stoff. Das hatte Fabrizio mit der Konkurrenz gemeint!
Entsetzt sah sie Gina an. „Die Seidenweber brennen unser Lager ab!“ Sie sprang auf. „Wir müssen den Männern beim Löschen helfen.“
Gina schluchzte lauter. „Bleib hier! Es ist gefährlich!“
„Eben!“ Mirella griff nach dem Eimer, der unter dem Waschtisch stand. Einen Moment zögerte sie; dann nahm sie den Ausgang über den Hof, um Rita nicht zu begegnen. Die Mutter würde sie womöglich aufhalten wollen.
Mit dem Eimer in der Hand lief sie auf die Straße. Der Glashändler von gegenüber, Antonio Varese, ließ gerade seine Kutsche auf die Straße rollen.
Während der Kutscher ihm die Tür aufhielt, wollte Mirella an ihnen vorbeirennen.
„Langsam!“ Varese erwischte sie an einer Schleife ihres Kleides.
Mirella packte seine Hand. „Lasst mich!“
„Steig Sie ein, wir haben den gleichen Weg!“ Er griff nach ihrem Eimer.
In der Kutsche saßen drei von Vareses Dienstboten, Eimer auf dem Schoß oder zwischen den Füßen. Mirella stieg ein und der Nachbar zwängte sich neben sie.
„Ich fürchte allerdings, wir werden zu spät kommen. Warum hat uns Ihr Vater nicht gleich zu Hilfe geholt?“
Die Straßen im Zentrum waren immer noch voller Menschen. Erst eine ganze Weile später erreichten sie den Kai, an dem die Fähre nach Capri lag. Kurz darauf stieg Mirella der Geruch von Rauch in die Nase. Die Gesichter der Männer wurden grimmig, verbissen.
Varese schob den Vorhang beiseite und warf einen Blick nach draußen. „Sie bleibt hier, Signorina!“
„Aber ...“
„Keine Widerrede. Ihr Bruder bringt mich um, wenn Ihr etwas passiert.“
Nicht weit entfernt klirrte Metall auf Metall. Männer brüllten; dann gab es einen lang gezogenen Schrei, der ihr einen eisigen Schauer den Rücken hinunterjagte.
Varese stieg aus, noch ehe die Kutsche ganz angehalten hatte, und winkte seinem Kutscher. „Cesare, sorg dafür, dass die Signorina hier bleibt.“ Die anderen Männer folgten ihm.
Mirella stand auf.
„Signorina, bitte.“
Sie schenkte Cesare ein Lächeln. Er war kaum älter als sie; sie sollte ihn bezaubern können. „Er kann mich doch aussteigen lassen. Ich möchte sehen, was dort passiert.“
Cesares Miene blieb starr. „So schau Sie aus dem Fenster.“ Er legte die Hand auf den Türgriff.
„Wollte Er nicht auch helfen?“
Er nickte. „Das hat Sie vereitelt.“
Mirella schlug einen Moment wie beschämt die Augen nieder und senkte ihre Stimme. „Das tut mir leid.“ Sie blickte wieder auf. „Aber geh Er nur. Nimm deinen Eimer und hilf. Mir wird schon nichts passieren.“
Er nahm tatsächlich seinen Eimer hoch; aber dann krallte er beide Hände um den Henkel und drückte die Arme steif an den Körper. Er sah sie nicht an, als er antwortete. „Ich gehorche dem padrone.“
Mirella stemmte die Ellenbogen auf den Fensterrahmen und streckte den Kopf hinaus.
Vor den Lagerhäusern am Ende des Piers blitzten im Feuerschein Messer und Säbel auf. Wo waren Dario und der Vater?
Sie fasste nach dem Türgriff, aber Cesare hielt ihn von außen fest. Blitzschnell beugte sie sich heraus und biss ihn in die Finger. Seine Hand fuhr zurück; sie riss die Tür auf und schlug sie ihm an den Kopf. Er taumelte zurück und sie sprang hinaus.
Aber als sie sich aufrichtete, war er neben ihr und packte sie. „Sie bleibt hier!“ Er presste sie fest an sich, umklammerte sie mit beiden Armen. Sie trat nach ihm und strampelte, aber es half nichts. Er war stärker, hob sie hoch und zwang sie in die Kutsche zurück.
Ihre Köpfe stießen aneinander. In seinen Augen blitzte es auf – und dann küsste er sie. Zuerst lag sein Mund hart auf dem ihren, dann wurden seine Lippen sanft und so weich, als wären sie aus Samt.
Er ließ sie abrupt los. „Vergeb Sie mir, Signorina, wenn Sie kann. Ich habe mich vergessen.“
Sie starrte ihn mit halb geöffnetem Mund an. Jetzt musste sie ihn ohrfeigen. Langsam hob sie die Hand. Dann legte sie die Fingerspitzen auf ihre Lippen und starrte weiter.
In Cesares Augen glomm immer noch ein Licht; und es war nicht der Widerschein des Feuers.
Mirella atmete durch. „Es geschehen viele Dinge in diesen Tagen, die nicht schicklich sind.“
Ihr Blick ging hinüber zu den Lagerhäusern. Die Männer schienen zur Vernunft gekommen und hatten ihre Zweikämpfe beendet. Sie formierten Ketten und begannen, Eimer zum Löschen weiterzureichen. Aber sie kämpften nicht mehr um das Lagerhaus der Scandore, sondern versuchten, ein Übergreifen des Feuers auf die angrenzenden Gebäude zu verhindern.
„Wir sollten beide helfen. Sie schlagen sich nicht mehr.“
Cesare drehte sich nach dem Feuer um. Dann nickte er. „Wir stellen uns ans Ende der Wasserkette.“
Erleichtert ließ Mirella sich von ihm aus der Kutsche helfen. Wieder waren sie sich ganz nahe. Aus seinem Haar strömte ein süßlicher Duft und überdeckte für einen Moment den Geruch des Rauchs, der zu ihnen herüber wehte. Ob Felipe sie auch so küssen würde?
Sie packten ihre Eimer und liefen zu den Helfern an die Kaimauer.
Immer wieder blickte Mirella sich suchend um, während sie Eimer um Eimer weiterreichte, die Cesare und ein zweiter Mann aus dem Meer hochzogen. Aber sie sah weder Varese noch Dario oder Enzo.
Dann gab es einen dumpfen Schlag wie bei einer Explosion. Cesare riss Mirella zu Boden und warf sich über sie. Die brennende Fassade des Lagerhauses stürzte nach vorn; laut prasselte eine Stichflamme hoch. Eine Hitzewelle fegte über sie hinweg.
Als Cesare sich zur Seite rollte und ihr auf die Beine half, brannten ihre Knie; aber sie scheute sich, ihre Röcke zu heben und nachzusehen.
„Es ist gefährlicher als ich dachte. Ich bringe Sie zur Kutsche zurück.“
Nun hatte sie nichts dagegen einzuwenden; es war eh alles verloren. Sie gab ihm ihre Hand und bemühte sich, nicht zu hinken, als sie neben ihm her ging. Er sollte sich keine Vorwürfe machen. Aber als sie dann das Knie beugte, um in die Kutsche zu steigen, entfuhr ihr doch ein Stöhnen; er schien es jedoch nicht zu bemerken.
Cesare lehnte sich an die Kutsche, den Blick zum Brandherd.
Vorsichtig lupfte sie den Rock, damit der Stoff nicht an den aufgeschundenen Knien festklebte. Ihre Schultern schmerzten von der ungewohnten Last der unzähligen Eimer. Und sie war müde; sie wünschte sich nur noch, auf der Stelle in ihr Bett kriechen zu können.
Es war Nacht, als die Männer schließlich ihre Eimer absetzten. Der Mond beschien einen rauchenden Trümmerhaufen, aus dem das Skelett einzelner Balken in den Himmel ragte.
„Ob sie etwas von den Waren retten konnten?“
Cesare drehte sich zu Mirella um. „Kaum. Was nicht verbrannt ist, wird das Wasser ruiniert haben.“
Kurz darauf kam Varese mit seinen Männern zurück. Er musterte erst Cesare, dann Mirella und zog missbilligend die Augenbrauen zusammen. Aber er sagte nichts, als er einstieg.
„Hat Er Dario gesehen? Und Vater?“
Er nickte. „Sie räumen auf, um Brandnester zu finden.“
Mirella schluckte; dann wagte sie die Frage, die ihr auf dem Herzen brannte. „Was ist übrig geblieben?“
Varese strich mit dem Zeigefinger ihre Wange entlang. „Wo kommt die Rußspur her?“
„Er hat meine Frage nicht beantwortet.“
„Nichts, Kind.“


 


Drittes Kapitel aus: "Köngliche Republik". Historischer Roman. 
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