11.12.11

#SampleSunday - Renntag in Kruschar

Jaguar verlässt die Welt
1
Haut ... weiß wie Knochen.“
Jaguar schob sich näher an den Besucher heran, der im Kreis der Männer seine Geschichte erzählte. Wenn er doch nur etwas lauter sprechen würde. Oder seinen Kopf aus dem Schatten nehmen.
„Anblick ... Haut nicht ertragen ... zweite Haut ... Kopf bis Fuß ... Geschenke.“
Noch ein Stückchen näher ...
Makakis Kopf fuhr herum, als Jaguar mit dem Fuß das Bein seines Bruders berührte. „Du hast im Kreis der Männer nichts verloren!“ Jaguar hörte ihn nicht, las nur von seinen Lippen.
Auch Vater von Beißfisch, der Lehrer seines Bruders, schaute ihn an. Der Blick ließ Jaguar zusammenzucken, er kroch zu den anderen Knaben zurück, neben Alligator, seinen Vaterbrudersohn.
Makaki war nicht, wie ein großer Bruder sein sollte! Er wusste genau, dass Jaguar von hier aus kein Wort verstehen konnte. Dabei war er fast schon Jungmann wie Makaki. Nicht mehr lange, und er dürfte auch bei den Männern sitzen.
Er blickte zu Vater hinüber, der mit seiner Schamanenfederhaube auf dem Kopf neben dem Häuptling saß. Vater schien nichts bemerkt zu haben.
Jaguar stand auf und ging zu den Hängematten, zog unterwegs sein kleines Steinmesser aus der Scheide, die an einem Lederriemen um seinen Hals hing, und lehnte sich an den Pfahl, an dem die Hängematte seines Bruders festgeknotet war. Mutter mit dem Neugeborenen und seine kleinen Schwestern Tukan und Ara lagen in der nächsten Matte, aber sie achteten nicht auf ihn. Ohne Makaki aus den Augen zu lassen, zog Jaguar die Klinge ein paar Mal über die geflochtenen Palmblätter, wo sie am Pfahl verknotet waren, so dass nur noch wenige Fasern die Matte hielten.
Morgen würden er und Alligator das Habono verlassen, würden für eine Handvoll Sonnen in den Wald gehen, damit ihre Nachtseelen sie fanden.
Jaguar seufzte. Ohne Nachtseele konnte er nicht Jungmann werden. Aber würde seine Nachtseele überhaupt einen Jungen wollen, der ihren Ruf kaum hören konnte?
Vor zwei Händen und fast einem Sommer war er geboren worden, einen Sommer früher als Alligator. Sie waren immer Freunde gewesen. Alligator, der Sohn des Häuptlings, und er, der Sohn des Schamanen.
Vater hatte schnell gemerkt, dass er kaum hören konnte, und begann ihn zu lehren, noch bevor er laufen konnte. Wie er das Hekuraauge nutzen konnte zuallererst. Das half, auch wenn viele Männer Jaguar schräg anguckten und einige laut forderten, er solle getötet werden. Männer wie Vater von Beißfisch, der beste Jäger und Lehrer seines Bruders.
Aber Jaguar war der zweite Sohn von einem zweiten Sohn von einem zweiten Sohn, und jeder wusste, dass die Zwei etwas Besonderes ist und dass die Kräfte in einem zweiten Sohn stark sind. Zwei Augen hat der Mensch, zwei Ohren, zwei Arme, zwei Beine. Die Frau hat zwei Brüste, der Mann zwei Sackkugeln.
Und, vielleicht am Wichtigsten, zwei Menschen wurden gebraucht, um einen dritten zu machen.
Eine sanfte Berührung an seinem Arm brachte ihn in die Wirklichkeit zurück. Alligator stand neben ihm, sah das Messer in seiner Hand und grinste.
Manchmal beneidete er Alligator. Sein Freund war ein guter Jäger. Auf viele Schritt Entfernung hörte er das Wild. Wäre Makaki nicht schon der Schüler von Vater von Beißfisch, Alligator wäre es geworden.
„Morgen“, flüsterte Jaguar und Alligator nickte.

2
Die Versammlung war zu Ende, der Besucher folgte dem Häuptling zu seiner Feuerstelle. Vater und Makaki kamen auf Jaguar zu, Mutter stand auf und schob den Topf näher an das Feuer. Schnell ging er vom Pfahl weg und hockte sich vor die Flammen.
„Schon wieder Hunger?“, las er von Mutters Lippen. Sie lächelte.
Vater legte ihm die Hand auf die Schulter. „Morgen geht er in den Wald. Da muss er vorher genug essen“, sagte er so laut, dass Jaguar ihn verstand, ohne seinen Mund zu sehen.
Jaguar nahm sich einen Löffel und schöpfte aus dem Topf, ließ dabei aber nicht Makaki aus den Augen, der sich in seine Hängematte setzte, sich zurücklegte und abstieß, um zu schaukeln.
Einen Herzschlag lang hielten die angeschnittenen Palmblätter noch, dann rissen sie und Makaki plumpste zu Boden.
Ara und Tukan brachen in helles Lachen aus, Vater lachte, Mutter lachte. Auch Jaguar lachte, aber gleichzeitig sprang er auf und rannte, Makaki hinter ihm her. Er jagte durch einen der niedrigen Ausgänge aus dem Habono, hinein in den Wald.
Makakis drei Sommer älteren Beine waren viel länger als Jaguars. Makaki warf ihn zu Boden und stieß sein Gesicht in den Schlamm. „Nichtsnutz!“, schrie er laut direkt in sein Ohr. „Du wirst nie ein richtiger Mann! Du kannst nicht jagen! Du kannst nicht gegen unsere Feinde ziehen! Du kannst gar nichts!“
Jaguar strampelte mit Armen und Beinen, aber Makaki ließ ihn nicht los. „Du bist ein Nichts und du bleibst ein Nichts! Nie wird deine Nachtseele dich finden, nie wirst du eine Hüftschnur tragen dürfen. Immer wirst du nackt bleiben!“
Jaguar konnte nicht atmen und langsam bekam er es mit der Angst.
„Du bist doch selber nackt, Makaki!“
Alligator war da!
„Wo hast du deine Hüftschnur verloren?“
Der Druck auf Jaguars Kopf ließ nach, er hob das Gesicht aus dem Schlamm, sog tief die Luft ein. Alligator stand zwei Schritte entfernt, er schaute Makaki an, ein breites Grinsen auf seinem Gesicht. Makaki sprang hastig auf und rannte zum Habono zurück.
„Makaki ist nahackt! Makaki ist nahackt!“, rief Alligator.
„Makaki ist nahackt!“, schrie auch Jaguar seinem Bruder nach, bis Makaki durch den Eingang verschwand.
Morgen würde Makaki alles wieder vergessen haben. Er war schnell wütend, aber er verzieh auch schnell. (...)

Leseprobe aus: "Renntag in Kruschar". Episode: "Jaguar verlässt die Welt". Fantasy. E-book. Erhältlich im Amazon Kindle Shop, bei Thalia, Weltbild, BILD.de,  iTunes, Kobo, Google Play für den NOOK, bei Sony und Smashwords, Beam E-books, Xinxii , Casa del libro und anderen Plattformen.
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