2.1.02

Das Haus
Mark stand lange vor dem alten Haus, in dem er mit Christina einst so glücklich gewesen war. Die Holzschaukel im Garten, die er für Tanja gebaut hatte, war verwittert. Wie lange war das alles her! Zwei Jahre? – Es schien eine Ewigkeit vergangen zu sein: Die Erinnerungen an die aufregend schönen Tage mit Christina und dem Baby waren blass geworden wie ein Traum.
Fest gesetzt hatte sich in seinem Gedächtnis nur der Alptraum, zu dem das Ende geworden war. Christinas wachsende Gereiztheit auf die Belastungen, die das Kind für sie bedeutete. Zwei Jahre war sie praktisch Tag und Nacht für die Kleine da gewesen. Der selbst gesetzte Anspruch, alles richtig zu machen, hatte sie an den Rand des Zusammenbruchs getrieben. Sie wollte eine bessere Mutter sein, als es ihre eigene gewesen war. Nie war es Christina gelungen, sich vom Schatten ihrer herrschsüchtigen Mutter zu befreien. Und als diese leibhaftig aufgetaucht war und das Herz der Enkelin im Flug eroberte, war Christina völlig durchgedreht.

Ihn schauderte erneut bei der Erinnerung an die Szene: Christina, die mit wüsten Beschimpfungen heulend auf ihre Mutter losgegangen war. Sein vergeblicher Versuch, ihr die Axt zu entwinden. Christina, die daraufhin auf ihn selber losging. Wie er sich selber mit einem Sprung hinter den Hackklotz in Sicherheit brachte und Christina auf ihre Mutter einschlug, die die ganze Zeit wie zur Salzsäule erstarrt da stand und sich nicht wehrte.
Dann der Prozeß: Christina, die ihn beschuldigte. Die zuerst der Polizei gegenüber behauptete, er habe ihre Mutter umgebracht; die ihm vorwarf, sie nicht daran gehindert zu haben, ihre Mutter umzubringen – ihm die Schuld gab, dass sie ihre Mutter umgebracht hatte.
Tanja hatte ihn vor dem Zusammenbruch bewahrt. Die Verantwortung, die sie bedeutete, hatte ihm geholfen, mit beiden Füßen auf der Erde zu bleiben. Die Freude, sie sie ihm schenkte, hatte ihm über den größten Schmerz hinweggeholfen. Täglich führte sie ihm vor Augen, daß er ja nicht alles verloren hatte. Ein großes Glück war ihm geblieben, für das es sich zu leben lohnte.

Der Gedanke an Tanja vertrieb noch stets die düsteren Erinnerungen. Er lächelte. Ob sie wohl noch irgend etwas wiedererkennen würde, wenn sie hierher zurückkehren würde? Zwei Jahre waren wirklich eine Ewigkeit – erst recht für ein kleines Mädchen. Vielleicht würde sie nicht einmal mehr ihre Mutter wiedererkennen, wenn diese eines Tages zurückkäme – gefragt hatte sie schon lange nicht mehr nach ihr.
Zwei Jahre waren wirklich eine Ewigkeit – auch für ihn: Zeit, die Gespenster endgültig zu verjagen. Er hatte Christina nach dem Prozeß nicht mehr wiedergesehen. Er wollte ihr niemals wieder begegnen. Er fürchtete sich davor, dass sie eines Tages plötzlich vor ihm stehen könnte. Er hätte nicht gewußt, wie er sich verhalten sollte und welche Gefühle eine solche Begegnung auslösen würden. Darum hatte er sich schweren Herzens endlich dazu durchgerungen, das Haus zu verkaufen und in eine andere Stadt zu ziehen. Christina sollte sie nie, nie wiederfinden können. Wo sie jetzt wohl war?
Bevor er einen Makler und die möglichen Käufer auf das Haus losließ, wollte er sich selber einen Eindruck über den momentanen Zustand des Hauses verschaffen. Er konnte es sich schließlich nicht leisten, übers Ohr gehauen zu werden.

Mark sah auf den Schlüssel in seiner Hand. Der Schlüssel zu seiner Vergangenheit ...

(c) Annemarie Nikolaus

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